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Zuckerhut oder ähnliches

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Es gab einmal eine poetische Belanglosigkeit, deren einzige scheue Absicht es war, Freude zu bereiten. Man kaufte in einem Pa-piersäckchen zu flachen Pillen gepreßte Dörrgräser, die der Teetrinker vergnügt auf seinem Getränk schwimmen ließ: Teeblumen, die sich in reizenden Formen aus dem amorphen Pillenzustand entfalteten. Aber nun ja. Man hat für Poesie keinen Sinn mehr, was soll's? Die Mehrzahl der Menschen, und wir leben bekanntlich in den Segnungen der Demokratie, gewinnt ihr keinen Reiz ab und läßt es gelten, daß der Hauch, der einem beim Betreten eines Blumenladens entgegenweht,) keineswegs von Rosenduft und Nelkenaroma geschwängert ist. Dafür sind die Produkte einer gütigen Natur zu hektischer Größe und totaler Farbigkeit gesteigert. Daß zu ihrer Vollkommenheit auch der Duft gehörte, ist vergessen.

Für differenzierte Genüsse bedarf es auch der Organe, die sie aufnehmen können, und es ist kein Geheimnis, daß uns davon immer mehr verlorengeht.

Aber schauen wir einmal das rein Materielle an. Es gibt Erzeugnisse, die sich durch Jahrzehnte bewährt haben und doch nicht mehr auf dem Tapet stehen. Etwa die — auch ein wenig poetischen — schwarzen Pflästerchen, Englischpflaster genannt, mit denen, nicht von ihrer Idee her, einst entzückende Damen ihrem Gesicht einen eigenen Akzent gaben. Die aber primär eine gute praktische Bedeutung besaßen. Man konnte damit kleine Wunden hygienisch versorgen, wogegen heutzutage das plumpe Heftpflaster diese Funktion nur ungenügend erfüllt und überdies nach

kurzer Zeit unansehnlich wird, weil es bald recht schmuddelig aussieht.

Wie dumm ist doch die Welt, daß sie sich der nützlichen Herrengamaschen entäußert hat, die zumal bei den fast durchwegs getragenen Halbschuhen, bei Schnee und Regen unschätzbare Dienste zu leisten vermögen. Oder Galoschen? Die man bei Schlechtwetter über den Schuh stülpte und solcherart mit intelligent blitzendem Schuhwerk in den Salon oder im Normalfall auch in die eigene Wohnung kam.

Sockenträger, zu denen sich der Verfasser nicht zählt, haben ihren

Kummer, weil die praktischen, wenn auch mäßig schönen Sok-kenhalter ausgestorben zu sein scheinen.

Ein größeres Objekt: die Kirchenkanzel, die heute gähnend leer bleibt, alldieweil der Priester es vorzieht, die Verkündigung des Gotteswortes von einem Provisorium vor dem Altar aus zu vollziehen. Was zur Folge hat, daß mindestens die Hälfte der Kirchenbesucher nur Bruchstücke mitbekommt, die günstigenfalls aus einem blechern tönenden Mikrophon steigen. Der Geistliche sollte, so meinen die Weisen, den Zuhörern näher sein, nicht über sie hinausragen. Kein Konzil hat das beschlossen, aber die Masse der Verkünder hat es aus ihm herausgelesen.

Und wieder zu Gegenständen des Alltags: Ehedem besaßen alle Automobile eine Kurbel, mit der man sie auch dann in Fahrt setzen konnte, wenn die Batterie versag-

te; und einen Magnet in gleicher Funktion. Hingegen hat man heute Fenster, die nur elektrisch zu öffnen sind (und manchmal versagen) und ihren Dienst so gemächlich tun, daß ein im Wasser „verunfallter" Wagen schon bis zum Grund sinkt, ehe man ihm durch das Fenster entrinnen kann. Von der klemmenden Tür im Brandfall nicht zu reden.

Daß die ehedem als selbstverständlich empfundene Zwischenwand vom Fond des Wagens zum Chauffeur, die gewünschten Falles leicht geöffnet werden konnte, in Limousinen für den privaten Gebrauch, aber meist auch in Direktionswagen, verschwunden ist, läßt sich wohl ganz leicht und demokratisch erklären, aber schwerlich motivieren (im echten Sinn dieses Wortes, nicht, wie heute, wo man „motivieren" für „zu etwas veranlassen" mißbraucht): Man will eben den Lenker miteinbeziehen; es ist ja auch so angenehm, wenn persönliche Dialoge mitgehört werden und gar geschäftliche Abmachungen: Oder nicht?

Wir machen uns das Leben schwer bei Dingen, die es erleichtern könnten. Eine kleine Liste solcher Opfer des mißverstandenen Fortschritts soll hier in bunter Wahl folgen: Der Stockschirm, das Zigarrenetui, die Erbswurst, die Schwefelzünder, der Zuckerhut, die Brandmalerei, der Stockdegen, das Geduldspiel, der Gummischwamm, die Papierzigarrenspitze etc.

Dankbar sei hingegen ein Recycling erwähnt: Jahrelang fragte man vergeblich in den Buchhandlungen nach dem so nützlichen Katechismus. Seit kurzem gibt es ihn wieder, wenn auch ein wenig sporadisch.

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