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Zwischen Schmiere und Lessing

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Berlin hat das 14. Theatertreffen überstanden, und damit die von einer fragwürdigen Jury nominierten zehn „bemerkenswertesten Aufführungen“ der letzten Spielzeit im deutschen Sprachraum. Österreich war wieder einmal nicht vertreten, kann auch vorläufig noch nicht einem Massenangebot ähnlicher Geschmacklosigkeiten, wie sie in Berlin gezeigt wurden, konkurrieren.

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Berlin hat das 14. Theatertreffen überstanden, und damit die von einer fragwürdigen Jury nominierten zehn „bemerkenswertesten Aufführungen“ der letzten Spielzeit im deutschen Sprachraum. Österreich war wieder einmal nicht vertreten, kann auch vorläufig noch nicht einem Massenangebot ähnlicher Geschmacklosigkeiten, wie sie in Berlin gezeigt wurden, konkurrieren.

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Las man die zum überwiegenden Teil negativen Berichte deutscher Kritiker über die Premieren der für Berlin ausgewählten Inszenierungen am Heimatort, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen, fragt man sich, wie es möglich war, derartige Produkte - sozusagen nun erst recht! - als festspielwürdig und „bemerkenswert“ zu bezeichnen, statt schamhaft den Mantel des Schweigens über so viel Unrat aus der Büchse der Pandora zu breiten. Der Mut des Kritikers der „Frankfurter Rundschau“, die ekelerregende „Medea“ in der Regie von Hans Neuenfels drastisch zu schildern und mit harten Worten abzulehnen, wurde in einer dreistündigen Publikumsdiskussion mit ordinären Schmähungen und persönlichen Beleidigungen beantwortet und führte trotz anfänglicher standhafter Verteidigung des Kritikers schließlich zu seiner Verunsicherung. Rezensenten und Publikum quittierten obszöne Darbietungen oft nur mit schwachen Protesten, spendeten sogar überraschend lebhaften Beifall. Und während die Kritiker nur verschleiernd andeuteten, was sich auf der Bühne tat, sogar beflissen um entschuldigende Auslegungen bemüht blieben, überwog die Zahl der Interessenten bei weitem die der Kartenbesitzer, und die Ausgeschlossenen versuchten in organisierten Protestaktionen gewaltsam den Eintritt zu erzwingen. Die Furcht, als unmodern, prüde oder ungebildet zu gelten, ließ viele wider besseres Empfinden schweigen oder gar dem Bühnenpöbel applaudieren.

Regisseure, wie Rudolph, Neuenfels, Peymann und Zadek - sie wollen uns mit aller Gewalt drastisch vor Augen führen, wie „man“ sich zur Zeit der alten 3 riechen oder auch im Mittelalterauf den Bühnen austobte. Dazu wird zunächst einmal der Text „hautnah“ neu übersetzt. Übersetzungen sind ja manipulierbar, und der geschockte Zuschauer erkennt bald in Sprache und Bild seinen Othello aber auch seinen „Diener zweier Herren“, nicht wieder. Sogar dieser bietet willkommenen Anlaß, an Popanzen mit offenen Hosenschlitzen, albernen Marionetten und weiblichen Wesen in schmuddeligen Unterröcken vorgebliche Sozialkritik zu üben. Neuerdings muß auch immer mindestens ein Kretin vom Dienst auf der Bühne sein. Wie immer Handlung und Text lauten, ohne obszöne Griffe und Gesten, männliche und weibliche Homosexualität, Notzucht und ständige totale Entkleidung geht es weder bei Peymann im „Faust“ noch bei Niels-Peter Rudolph im „Diener zweier Herren“, wo sich die Paare - auch die gleichgeschlechtlichen - mit der Grazie von Nilpferden bespringen.

In Hans Neuenfels’ Medea-Inszenie- rung dominiert bei offener, über acht Parkettreihen vorgezogener Bühne zunächst der Unrat. In schmierigen Fetzen treten die Darsteller auf, werfen Kochtöpfe über rohe Holzplanken, die sie plötzlich aufreißen, beschmutzen sich mit Lehm, wühlen im Dreck, entblößen sich unmotiviert oder stolzieren nackt mit riesigen Phalli über die Bühne, treiben Selbstbefriedigung und tragen als Männer zerrissene Weiberwäsche - Korsetts und Strumpfhaltergürtel. Zehn lebendige Doggen bellen auf der Bühne; hier entmannt sich auch der nackte Unglücksbote mit schwarzem Phallus und Zylinder; Medea zieht schließlich die Leichen ihrer halbwüchsigen Söhne - lallende Idioten, die mit Puppen spielen - trällernd in Reisekoffern über die leere Szene. Und dazu wird heiser gekreischt, gelispelt, gegurgelt und gestöhnt - des Dilettantismus ganzer Jammer faßt einen an. Das alles seien Originalgreuel der Antike - versucht uns der Regisseur einzureden.

Ähnlich Zadeks „Othello“. Auch hier wieder Unrat, eine sabbernde, röchelnde Negerkarikatur mit ständig herunterfallender strähniger Perücke.

Othellos Schuhwichsfarbe verunstaltet die meist im Bikini herumlaufende oder nur mit zwei Bändern verzierte Desdemona grotesk; ein junger Jago, der sich im Gespräch mit Othello bis auf den Slip entkleidet, umarmt den Feldherm geil von hinten und erklärt: „So, ich geh’ jetzt schwimm’!“ Desdemona im Reitdreß hat offensichtlich ein Verhältnis mit Emilia, wird schließlich von Othello beim Liebes- akt im Bett erstickt und als nackte Leiche über einen Paravant geworfen, auf dem sie halsbrecherisch pendeln muß, und wenn Cassio bei nächtlichem Gemetzel ein Bein verliert und den blutigen Stumpf samt Stiefel, im Rollstuhl sitzend, auf den Knien hält, ist die übelste Schmiere perfekt und wird als solche auch vom Publikum mit dröhnendem Gelächter bedacht. Das aber nehmen die „Schauspieler“, samt und sonders erschütternd in ihrer laienhaften Unzulänglichkeit, nicht widerspruchslos hin: sie antworten mit eindeutig obszönen Gesten.

Im „Gruppenprojekt Atlantis“, das Augusto Fernandes auą Bochum mitbringt, wird nur noch gelallt, gealbert oder unmotiviert getobt. Hier gibt es Seelen- und Körperstriptease, entledigt sich jeder seiner geheimsten

Komplexe in Selbstdarstellung, ist für das Ubergießen und Beschmieren der Nackerpatzeln mit Farbe und ihr nachträgliches Garnieren mit Salat- blättem überhaupt kein inhaltlicher Vorwand mehr nötig. So will man angeblich dem Phänomen des totalen Theaters auf die Spur kommen.

Das aber gelang nur Peter Stein mit seiner Mammut-Show „Shakespeares Memory“ im Berlin-Spandauer-Stu- dio. An zwei Abenden zeigte dort die Schaubühne in Wort, Ton und Bild ein imposantes Sittengemälde der Shakespeare-Zeit, das Kunst, Wissenschaft und Technik an groß angelegten Simultanschauplätzen in erstaunlicher Variabilität und bewundernswerter Darstellungsraffinesse vereinte.

Zadek zeigte, daß er es auch anders kann. Im Gegensatz zur Hedda-Ga- bler-Inszenierung des Berliner Schiller-Theaters (Niels-Peter Rudolph) mit einer Titelheldin, die am liebsten auf Kleiderschränken mit Decke und Heizsonne übernachtet, dominierte in Zadeks eleganter Bochumer Grün- derzeitstil-Inszenzierung desselben Dramas innere Spannung bei relativ lautlosem äußeren Handlungsablauf.

Die Krönung bot Dieter Dorn (Münchner Kammerspiele) mit seiner eigentlich ganz konservativen, ungemein subtilen, psychologisch aktuell aufgewerteten Darstellung der „Minna von Bamhelm“. Das Theater muß sich offenbar doch nicht im Dreck wälzen, um Erfolg zu haben. Notwendig hat dies offenbar aber das unvorstellbare Heer der Dilettanten und Nullen an deutschen Bühnen.

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