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Es gibt keine „Kollektivschuld“

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Bei der Behandlung der sogenannten NS-Gesetze schieden sich allerdings schon damals die Geister. In einer dieser damaligen zahllosen Verhandlungen der drei Regierungsparteien — auch die KPÖ war bekanntlich in der erstfen Zeit durch einen Minister in der Bundesregierung vertreten — bildete das Kapitel „Kollektivschuld“ aller Mitglieder der NSDAP den Gegenstand wochenlanger Diskussionen. Immer wieder wurde damals von den Vertretern der ÖVP auf das Bedenkliche einer Konstruktion des Begriffes „Kollektivschuld“ hingewiesen. Denn es war klar, daß die einfache Mitgliedschaft zur einzigen erlaubten Partei noch lange keine Schuld im Sinne der österreichischen Strafrechtsordnung darstellte. Nicht einmal die Ausübung einer minderen Parteifunktion mußte an sich schon den Beweis echten Verschuldens bilden. Im Sinbe der österreichischen Rechtsnorm wäre in jedem einzelnen Fall zu untersuchen gewesen, warum jemand der NSDAP beigetreten ist, bzw. wie weit seine Kenntnis von den tatsächlichen Verhältnissen und den verbrecherischen Handlungen dieser Partei reichte bzw. reichen konnte. Es ist heute zum Beispiel unbestritten, daß nur der geringste Teil der Zeitgenossen vob damals von dem Kenntnis hatten, was sich hinter den Mauern der Gefängnisse und der Konzentrationslager abspielte, ganz zu schweigen von der Existenz der Vernichtungslager. Aus inzwischen veröffentlichten Dokumenten wissen wir auch, daß nicht einmal maßgebendste ausländische Staatsmänner die ihnen übermittelten authentischen Berichte über die wahren Greuel der NS- Herrschaft geglaubt haben. Als Entschuldigung für diesen verhängnisvollen Unglauben mag gelten, daß das Ausmaß der Greuel tatsächlich das menschliche Auffassungsvermögen bei weitem überschritten hat. Daß menschlicher Geist ein technisches System erfinden konnte, mit dem man in manchen Vernichtungslagern 5000 Menschen an einem Tag ermorden und die Leichen beseitigen konnte, ist so unfaßbar, daß es von vielen eben erst erfaßt werdeb konnte, als einige dieser Lager der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Dem einfachen Mitglied der NSDAP kann in dieser Relation nicht einmal vorgeworfen werden, daß man so etwas eben hätte wissen müsen.

Trotzdem kam man um das Problem der „Kollektivschuld“ nicht ganz herum. Es war keine Frage, daß zur Liquidierung dieses Problems das österreichische Strafgesetz nicht ausgereicht hätte und daher zusätzliche Bestimmungen notwendig wurden, wobei der der österreichischen Rechtsordnung integral innewohnende Grundsatz, daß ein’ Straftatbestand nachträglich nicht konstruiert werden dürfe, die geringere Rolle spielt. Wenn das Strafrecht in allen zivilisierten Staaten der Welt feststellt, daß nicht bestraft werden dürfe, was zum Zeitpunkt der Tatsetzung nicht mit Strafe bedroht war, so mußte von diesem Grundsatz nach 1945 eine Ausnahme gemacht werden, weil sich eben die Ereignisse der NS-Zeit sonst überhaupt nicht hätten strafrechtlich erfassen lassen. Auch die Rechtsnorm des Nürnberger Gerichtshofes wurde und konnte erst nachher statuiert werden.

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