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Die Wahrheit ist vielseitig

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DIE SANKT STEPHANS-KRONE und die Insignien des Königreiches Ungarn. Von Magda von Bäräny. Die Kronen des Hauses Österreich, Band III. Verlag Herold, Wien-München, 1961. 80 Seiten mit 32 ganzseitigen Abbildungen. Preis 68 S.

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DIE SANKT STEPHANS-KRONE und die Insignien des Königreiches Ungarn. Von Magda von Bäräny. Die Kronen des Hauses Österreich, Band III. Verlag Herold, Wien-München, 1961. 80 Seiten mit 32 ganzseitigen Abbildungen. Preis 68 S.

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Der letzte ungarische König, Karl IV., starb 1922 in Funchal auf der Insel Madeira. Die Republik — noch nicht die Volksrepublik — wurde in Ungarn am 2. Februar 1946 proklamiert. Zwischen diesen zwei Daten war Ungarn ein Königreich ohne König. In der königlichen Burg von Buda wurde die „heilige Krone Ungarns“, die Sankt Stephans-Krone, unter der Obhut einer eigenen „Kronwache“ und zweier Würdenträger, der Kronhüter, aufbewahrt. In den ungarischen Schulen lernte man über die „Theorie der heiligen Krone". Demnach galt die Krone etwa seit dem 13. Jahrhundert als entscheidender Faktor des nationalen Lebens, als Symbol des verfassungsmäßigen Königs und zugleich der ungarischen Eigenstaatlichkeit. Das Gebiet des Staates war das Gebiet der heiligen Krone, und die Souveränitätsrechte waren keine königlichen Rechte, sondern die Rechte des Staates, das heißt der heiligen Krone, deren Ausübung durch den Akt der Krönung auf den König übertragen wurde. Ohne Krönung gab es also keinen König, ebenso hatte aber der Staat ohne König nur vorübergehenden Charakter. Vieles in Her ungarischen Geschichte in den letzten vierhundert Jahren ist nur von dieser symbolträchtigen Lehre her zu begreifen.

Die Krone selbst, eine nationale Reliquie also von großer Bedeutung für das Unabhängigkeitsstreben, das heißt, für Selbstbehauptung und Selbstverständnis Ungarns im „Meer der Völker“, blieb indessen für eine moderne archäologische Forschung unzugänglich. Der gültigen nationalen Tradition nach erhielt der erste christliche König der Ungarn, König Stephan, der bereits Ende des 11. Jahrhunderts heiliggesprochen wurde, eine Krone von Papst Sylvester II. Diese „corona latina“ — und das ist der obere Teil der heutigen Krone — wurde mit einer späteren, byzantinischen Krone, der „corona graeca“, einer Schenkung des Kaisers Michael Dukas, vermutlich unter König Bela III gegen Ende des 12. Jahrhunderts vereinigt. Dies war schon seit 1800 bekannt. Niemand war aber imstande, diese historischen Angaben am Objekt selbst zu überprüfen. Als im Jahre 1938, im Jubiläumsjahr des ersten heiligen Königs, die Krone den Wissenschaftlern zugänglich gemacht wurde, durften diese sie nur betrachten, nicht aber berühren, geschweige denn, wie es ja im Fall einer gründlichen Untersuchung unerläßlich gewesen wäre, in ihre Teile zerlegen. Trotzdem befand sich schon im damaligen Gutachten ein Passus, der folgendes sagt: „Daß die Krone St. Stephans zwar verstümmelt, doch im Original auf uns gekommen ist, können wir nicht als bewiesen betrachten.“

Im Frühjahr 1945 hat die von den Deutschen in Ungarn, eingesetzte Pfeil- kreuzlerregierung die Krone mit den Insignien nach Deutschland gebracht, wo sie eine „Kriegsbeute“ der 8. amerikanischen Armee wurde. Seither ist der Aufenthaltsort der Krone für die Öffentlichkeit unbekannt. Ein amerikanischer Forscher, J. P. Kelleher, konnte sie jedoch untersuchen. Er stellte in seiner 1951 in Rom erschienenen Monographie über die Krone die überraschende These auf, daß die sogenannten Kreuzbügel — also die „corona latina“ — nicht Überreste einer Krone sind, wie man bisher geglaubt hat, sondern eines um das Jahr 1000 in einer ottonischen Goldschmiedewerkstatt entstandenen Evangeliumeinbandes, der vermutlich aus der Schatzkammer des heiligen Stephan entnommen wurde. Die Krone in ihrer der Nachwelt überlieferten heutigen Form wurde geschaffen, um die Dukas- Krone, die nur eine Frauenkrone, vermutlich die Krone einer byzantinischen Prinzessin und Gattin des Ungamkönigs Gezą I. war, aus dynastischen Gründen in eine „corona clausa“ zu verwandeln und damit Machtansprüche der ungarischen Herrscher aus dem Arpadenhaus zu bekräftigen. Die Autorin des vorliegenden Werkes stellt diese Hypothese, die wohl eine der ältesten und ehrwürdigsten Traditionen ungarische’’ Geschichte in ein gänzlich neues Licht rückt, in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen, bemerkt aber dazu mit Recht, daß eine letzte, wissenschaftlich einwandfreie Klärung des Sachverhaltes noch weitere Untersuchungen notwendig machen würde. „Die Wahrheit ist aber vielseitig“, schreibt die Autorin abschließend, „und bietet immer mehr als das, was die Wissenschaft zu beweisen imstande ist. Die geist- und geschichtsformende Kraft, die aus der .Wahrheit* einer nationalen Tradition strömt, ist unabhängig von materiellen Detailproblemen wie das Alter oder die genaue Herkunft einzelner historischer Gegenstände.“

Vielleicht war die Möglichkeit, die Wahrheit über die Stephans-Krone und ebenso auch über viele noch umstrittene oder seit jeher verschwiegene Probleme ungarischer Geschichte und damit der Geschichte des Donauraumes und seiner aufeinander angewiesenen Völker zu erfahren, noch nie größer als heute, da nationale Traditionen nur noch von wenigen geehrt und von niemandem mehr, von keiner „Kronwache", geschützt werden. Auch die „Theorie der heiligen Krone" zählt im alten Sinne nicht mehr, und die Forscher erhalten von keiner Seite Direktiven und „Empfehlungen" — sofern sie nicht in einem Land leben, wo der historische Materialismus als offiziell verkündete Lehre das Gebiet der Geschichtsforschung erneut einschränkt. Das äußerst verdienstvolle, lehrreiche Buch der ungarischen, heute im Westen wirkenden Forscherin weist in die Richtung einer noch weithin unbekannten, von ständischen, nationalen Vorurteilen befreiten Geschichte in diesem Teil Europas, deren Erforschung die Grundlagen für ein neues, von dem alten in manchem vielleicht abweichendes, deshalb aber noch nicht minderwertigeres Geschichtsbewußt- sein bieten könnte.

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