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Erpressung als Präzedenzfall?

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Auf der Traktandenliste der Eidgenössischen Räte in Bern stand am 8. Oktober nur ein Tagesordnungspunkt: die Anschläge auf die Zivilluftfahrt, die Internierung von zeitweilig über 400 Passagieren inmitten der Wüste und die Freilassung inhaftierter Attentäter. Nicht hinter vorgehaltener Hand, sondern mit offenem Visier wurde die Redeschlacht geführt. Der Interpellant hatte bereits die tiefe Empörung des Schweizer Volkes über die gelungene Erpressung zum Ausdruck gebracht. Er verlangte von der Regierung Auskunft über den Gang der Ereignisse und über die Maßnahmen, die sich für die Zukunft daraus ergeben sollten. Seit die beiden großen Schweizer Flugplätze Zürich und Genf in einen belagerungsähnlichen Zustand versetzt wurden, hat die Unruhe im Land eher zu- als abgenommen. Seit dem Beginn des ersten Weltkriegs und der Schließung der Grenzen ist ähnliches nicht mehr erlebt worden.

Bundesrat Graber. der Minister für Äußeres, machte sich die Antwort nicht leicht. Allein der Umfang seiner Entgegnung — drei Stunden, eine für hiesige Verhältnisse ungewöhnliche Länge — verdeutlichte es. Er konzentrierte sich auf den Vorwurf, welcher der Regierung in Bern, wie auch der zuständigen Kantonsregierung Zürich gemacht worden ist und noch gemacht wird: Mußte die erpresserische Forderung der Fedayin so prompt erfüllt werden?

„Der Bundesrat“, entgegnete Graber, „hatte nicht den geringsten Anlaß, diese Forderungen nicht ernst zu nehmen. 318 Personen waren in der Wüste in den Händen der Terroristen.' Drei inhaftierte Personen, die ohnehin in Kürze entlassen worden wären — um mehr ging es zunächst ja nicht —, waren dem Bundesrat nicht wertvoller als das Leben von Hunderten unschuldiger Zivilperson-nen. Ohne die Einschaltung des IKRK, das damit eine Aufgabe übernahm, die weit über seine normalen Kompetenzen hinausging, hätte überdies die Bereitschaft der Schweizer Regierung nicht übermittelt werden können. Was wäre gewonnen gewesen, hätte man 24 Stunden oder länger zugewartet? Der sich verstärkende Druck der regulären Truppen auf die Fedayin mußte die Lage der Geiseln eher verschlimmern als verbessern. Die öffentliche Meinung, gab der Minister zu, konnte in diesem Fall nicht erforscht werden. Im Gegenteil: die Usurpierung des Rechtsstandpunktes zugunsten der Humanität würde von vielen als zu großes Opfer nicht hingenommen worden sein. So blieb der einsame Entschluß, in den erst später, nach der Ausweitung der terroristischen Forderungen auf die Inhaftierten in Deutschland und England, auch diese Länder mit einbezogen wurden.

Die Aussprache erwies einmal mehr, daß keine Alternativlösung, bei aller Kritik an dem Vorgehen der Bundesregierung, denkbar gewesen wäre. Hauptsorge aller Redner war es, daß mit dem Einschwenken der Regierung auf die Forderung der Erpresser kein Präzedenzfall geschaffen wurde. Bundesrat Graber, der in diesem Zusammenhang auf den mangelnden personalen Bestand des diplomatischen Dienstes hinwies, erwiderte mit Entschiedenheit: „Die Erpressung in Zerqa schafft keinen Präzedenzfall. Wir haben nachgegeben, weil eine ganze Verkettung von Umständen eine andere Haltung unmöglich machte. Wenn aber fundamentalere Werte betroffen worden wären, hätten wir auf die Erpressung nicht eingehen können.“ Die Antwort auf die naheliegende Frage, welche Werte nach Meinung des Ministers als noch fundamentaler anzusehen seien, blieb er leider schuldig. Vielleicht wird schon die nahe Zukunft darauf eine Antwort geben. Die Unruhe in der Schweiz hat sich aber auch nach dieser klärenden Debatte nicht gelegt.

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