Das Heil der Armen

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Er war Berater von Märtyrerbischof Óscar Romero (1980) und entging in El Salvador 1989 selbst einem Anschlag. Für Jon Sobrino führt - theologisch - an den Armen kein Weg vorbei.

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Er war Berater von Märtyrerbischof Óscar Romero (1980) und entging in El Salvador 1989 selbst einem Anschlag. Für Jon Sobrino führt - theologisch - an den Armen kein Weg vorbei.

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Für seine Christologie maßregelte ihn 2007 die Glaubenskongregation: Jon Sobrinos Thesen könnten "den Gläubigen durch ihre Irrtümer und Gefährlichkeit schaden", hieß es. Das klingt wie Hohn. Gefährlich ist das Denken des Befreiungstheologen, weil er politisch Mächtige gegen sich aufbringt.

Die Furche: Eine Ihrer zentralen Thesen lautet: "Extra pauperes nulla salus - Außerhalb der Armen gibt es kein Heil." Warum sind die Armen so im theologischen Blick?

Jon Sobrino: Weil ich glaube, dass dies die Wahrheit ist. Für mich verbindet sich damit eine Geschichte, eine Erfahrung. Man kann Erfahrungen machen, indem man ein Buch liest. Und einige unserer Heiligen hatten mystische Erfahrungen. Aber meine Erfahrung ist, dass die Armen in die Wirklichkeit eingebrochen sind. Das ist für mich real geworden.

Die Furche: Was heißt denn Armut in dieser Perspektive?

Sobrino: Die Armen bilden weltweit die Mehrheit der Menschen, also rein quantitativ sind sie die Wirklichkeit der Welt. Und dann gibt es auch die qualitative Betrachtung: Die Armen setzen das Leben nicht voraus. Hier in Europa setzt man voraus, etwas zum Leben, zum Essen zu haben. Man setzt auch die Gesundheit voraus. Natürlich kann man krank werden oder sterben; trotzdem setze ich voraus, gesund sein zu können - es gibt Ärzte, Krankenhäuser usw. Analoges gilt für die Bildung. Wenn jetzt in Europa so viel von Krise geredet wird, so setzt das voraus, dass man ohne Krise leben kann. Aber bei den Armen kann all das nicht vorausgesetzt werden - Lebensunterhalt, Essen, Gesundheit, Bildung. Also quantitativ sind die Armen die Mehrheit und qualitativ ist es ein Werturteil, dass sie eben nichts voraussetzen können.

Die Furche: Und wie müsste man sich im Angesicht dieser Armut verhalten?

Sobrino: Man muss einmal sehen: Diese Leute - ob in El Salvador, in Lateinamerika oder anderswo - haben Feinde, ich möchte sagen: fast alle Mächte dieser Welt sind das. Die Vereinten Nationen setzen sich nicht für diese Menschen ein. Auch die internationale Finanzwirtschaft nicht. Die Kirchen, so hoffe ich, wenigsten ein bisschen. Es gibt einige Leute in der Kirche, die glauben, dass die Armen die Bevorzugten Gottes sind. Das sind vielleicht fromme Gedanken, denn in Lateinamerika sind die Armee oder die Banken Feinde der Armen. Und in gewisser Weise auch die Medien. Medien sind nicht per se Feinde der Armen. Aber sie haben ihre eigenen Interessen und sind von anderen abhängig. All das führt dazu, dass ich zur Überzeugung gekommen bin: Die Wirklichkeit dieser Welt ist die Wirklichkeit der Armen.

Die Furche: Was hat dieser Befund mit Gott und dem Glauben zu tun?

Sobrino: Ich weiß nicht genau, was die Armen rettet oder was sie meinen, was ihr Heil, ihre Rettung ist. Ich kann nicht für sie sprechen. Aber für mich sind es die Armen, die uns die Wahrheit dieser Welt zeigen. Sie haben mir am besten die Wahrheit Gottes gezeigt. Ich glaube, ich habe im Kontakt mit den Armen dieser Welt ein wenig besser verstanden, was Gott ist. Das Wichtigste und das Tiefste in der Wirklichkeit habe ich in den Armen entdeckt. Ich schäme mich nicht, Mensch zu sein, wenn es mir gelingt, auf irgendeine Weise mit den Armen zu leben. Und an den konkreten armen Menschen, denen ich etwa in El Salvador begegne - sehe ich, dass sie etwas Gutes an sich haben.

Die Furche: Verklären Sie die Armen da nicht auch?

Sobrino: Natürlich findet sich unter den Armen auch Schlechtes - Egoismus, Kriminalität... Aber die Güte, die ihnen eigen ist, ist etwas Wunderbares. Ich denke an die Köchin in meinem Haus - die wird nie heiliggesprochen werden, sie hat kein Geld, aber in ihr begegnet mir etwas, was mich fasziniert. Vor kurzem hat sie mir einmal gesagt: "Padre, Sie sehen sehr müde aus. Sie arbeiten viel zu viel. Machen Sie Ferien!" Und ich habe sie gefragt -sie ist Mitte Fünfzig: "Wann sind Sie zum letzten Mal auf Urlaub gewesen?" Sie hat geantwortet: "Noch nie." Solch einfache Menschenfreundlichkeit, solche Qualität des Lebens findet man anderswo nicht.

Die Furche: Dieser Tage wird ein neuer Papst gewählt. Was ist das Wichtigste für die Zukunft der katholischen Kirche?

Sobrino: Das Wichtigste ist die Bekehrung. Und Bekehrung heißt, anders sein. Vor allem sollten wir die Macht vergessen. Das I. Vatikanum hat dem Papst den Primat der Macht gegeben. Aber wir sollten nicht akzeptieren, dass irgendjemand, ein Mann, den Primat hat. Ich verstehe das nicht. Denn Jesus von Nazareth hat etwas ganz anderes gesagt: Jesus hat, so steht es im Neuen Testament, zur Frage der Macht gemeint: Unter euch aber soll es anders sein, der Kleinste soll der Größte sein. Das meine ich mit Bekehrung. Ein weiterer Punkt ist, dass es im Vatikan die Tendenz zur Prachtentfaltung gibt. In El Salvador wäre das undenkbar, denn wir hätten kein Geld dafür. Das Wichtigste wäre also, Macht abzugeben und weniger vom Prunk geprägt zu sein. Wichtiger sind das Mitleiden und die Barmherzigkeit. Als Theologe weiß ich natürlich um die Bedeutung des Lehramts, aber ohne Barmherzigkeit gibt es keine Wahrheit. Wenn wir Gott zuerst über die Wahrheit verkünden und nicht über die Barmherzigkeit, dann verstehe ich nicht viel von Gott. Ohne Barmherzigkeit ist die Sicht auf Gott verstellt.

Die Furche: Oft wird auch der römische Zentralismus angeprangert.

Sobrino: Auch das ist problematisch. Im Fall der Bischöfe, die von Rom zentral ernannt werden, wird das augenfällig: Sie sind nicht Bischöfe, um die Sache Jesu voranzutreiben. In diesem Kontext sehe ich auch, dass sich die Haltung der Kirche gegenüber den Frauen ändern muss. In meiner Christologie habe ich geschrieben: Christus war Mensch in der Gestalt eines Mannes. Theoretisch könnte er Mensch auch in Gestalt einer Frau geworden sein. Wir Männer in der Kirche haben weder die Würde noch die Qualität der Frauen akzeptiert. Die Kirche geht mit den Frauen nicht ernsthaft um. Auch da wäre eine große Bekehrung nötig. Und da ist das Beispiel der Märtyrer. Das Wort wird heute nicht mehr oft gebraucht - obwohl es für uns in Lateinamerika sehr wichtig ist: Märtyrer heißt wörtlich übersetzt "Zeuge". Doch wir verstehen heute oft etwas anderes.

Die Furche: Meinen Sie da etwa das Zeugnis von Erzbischof Óscar Romero, der vor mehr als 30 Jahren ermordet wurde?

Sobrino: Ich habe einen Traum: Viele Bischöfe, aber auch Männer und Frauen aller Welt, kommen nach Rom - aus Afrika, aus Indien, aus Österreich, aus El Salvador - und erzählen von Menschen wie Óscar Romero, die ihr Leben aus Liebe zu den Armen hingegeben haben. Der 1989 ermordete Jesuitentheologe Ignacio Ellacuría hat von Männern, Frauen, Kindern, Christen in unseren Ländern als "El pueblo crucificado - das gekreuzigte Volk" gesprochen und sie mit dem leidenden Gottesknecht beim Propheten Jesaja verglichen, der umgebracht wurde - "er hat keine menschliche Gestalt". Auch diese Menschen haben keine Namen und sie sterben in vielen Fällen in Vergessenheit. Aber sie haben nichts Schlechtes getan. Es gab in ihnen keine Sünde. Und sie wurden unter den Sündern begraben. Das passiert heute in der Welt - in El Salvador und anderswo.

Inmitten der Armut und Gewalt El Salvadors leben und denken

Armut und Gewalt beeinflussen Leben und Denken von Jon Sobrino, einem der bedeutendsten Befreiungstheologen, bis zum heutigen Tag. Der gebürtige Baske war theologischer Berater des 1980 ermordeten Erzbischofs von San Salvador, Óscar Romero.

Neun Jahre später, als acht Mitbrüder und deren Mitarbeiterinnen an der zentralamerikanischen Jesuitenuniversität in San Salvador von Todesschwadronen ermordet wurden, darunter der bedeutende Theologe Ignacio Ellacuría, hielt sich Sobrino zufällig im Ausland auf.

Opus Magnum des heute 74-Jährigen ist eine viel beachtete - und bahnbrechende - Christologie aus der "Perspektive der Opfer"(deutsche Ausgabe: "Der Glaube an Jesus Christus", Grünewald 2008). Gegen dieses Buch erließ die vatikanische Glaubenskongregation 2007 eine "öffentliche Notifikation", in der einige Thesen Sobrinos verurteilt wurden. Allerdings wurde durch die Notifikation kein formelles Lehrverbot oder eine vergleichbare Sanktion ausgesprochen, sodass der Jesuitentheologe bis heute lehren und publizieren kann. (ofri)

Das Gespräch führte Otto Friedrich

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