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Das Senfkorn von Lisieux

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Zu Ida Friederike Görres' Neubarbeitung ihrer "Studie über Therese von Lisieux"

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Zu Ida Friederike Görres' Neubarbeitung ihrer "Studie über Therese von Lisieux"

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Das hier in achter, neubearbeiteter und erweiterter Auflage vorliegende Werk von Ida Friederike Görres über Therese von Lisieux hat seit seinem ersten Erscheinen Geschichte gebildet, so wie es selbst ein bedeutendes Dokument einer spezifischen Situation des deutschen Katholizismus darstellt. Man kann geschichtlich diese vieldiskutierte Arbeit nur verstehen aus dem Elan der deutschen katholischen Jugendbewegung, ihrem Wunsche nach einer „wirklichen“ Gotteserfahrung im täglichen Leben, jenseits der Sentimentalität, des Pathos und der Einbildungen eines zu Ende gehenden Zeitalters. Nicht zufällig hat sich diese Bewegung im deutschen Raum Newman als Schutzheiligen gewählt. Sein Lieblingswort ist „to realize“, das Christsein im täglichen Leben verwirklichen. Bekanntlich arbeitet Frau von Görres seit langem auch über diesen großen Heiligen des 19. Jahrhunderts. Im Kernraum der deutschen katholischen Jugendbewegung hat, wie sie selbst berichtet, auf Burg Rothenfels, Ida Friederike Görres zum erstenmal ihr Bild von Therese von Lisieux erschaut. Das Bild einer Heiligen, die ein ganz gewöhnlicher Merrch war und in Erfüllung des Gewöhnlichen das Auß -rordentliche bezeugte: die Anwesenheit Christi auf “rden, in den Kindern der Menschen.

Frau von Görres hat sorgfältig die 1956 erschienene vierbändige kritische Ausgabe der Manuskripte der Heiligen Therese studiert und kommt zu dem Schluß: „Von sensationellen Enthüllungen, von grundstürzenden Wandlungen im Gesicht der Heiligen ist nicht die Rede. In dieser Hinsicht hat der Berg der kritischen Forschung nur eine Maus geboren. Weder in den Briefen noch im Urtext der .Geschichte' habe ich nur einen einzigen Satz entdecken können, der mein Verständnis der Heiligen in irgendeiner Beziehung verändert hätte.“

In drei einleitenden und drei abschließenden neuen Kapiteln setzt sich Ida Friederike Görres mit anderen Auffassungen der Heiligen von Lisieux auseinander und kommt wieder zu dem Schluß: „Mit Ehrfurcht, aber entschieden, wagen wir auszusprechen: Nirgends ist uns das Außerordentliche entgegengetreten. Wir haben ein kleines, eingeschränktes, ermüdend eintöniges Leben betrachtet. Kein frühreifes Genie ist uns dabei begegnet, keine verhinderte Kleopatra, keine klösterliche Simone Weil, keine unterdrückte Titanin, sondern ein sehr liebenswürdiges Kleinstadtmädchen mit den bezeichnenden Zügen solcher Herkunft und Umwelt; gut begabt, doch -jjpn sehr genügsamer Bildung, mit engem Weltbild, unzulänglichem Geschmack, manchen Entwicklungshemmungen und auch mit besonderen Belastungen der Anlage. Therese war eine typische .kleine Seele'. Und als solche ist sie die große, die weltüberleuchtende Heilige geworden“ (S. 519). Therese macht auf eine Form christlichen Daseins aufmerksam, die heute erregend aktuell ist: die Unsichtbarkeit (S. 533). „Vielleicht muß mancher erst lernen, und mühsam lernen, den Blick, der nach Heroen und Genien sucht, auf so Geringes einzustellen, wie sich da auch das Auge über dem Mikroskop einstellen muß, bis es im befremdenden Gewirr von Strichlein und Fleckchen eine Gestalt unterscheidet. Dann wird ihm aber auch das Schauen dieser eigenartigen Schönheit in der Armut zuteil, streng, klar und rührend wie die Schönheit kahler Baumkronen vor leeren Himmeln, wie die Durchsichtigkeit einer nackten, sonnengebadeten Vorfrühlingslandschaft. Er spürt, wie jede Zelle und Faser solchen Lebens mehr ist als nur seine Natur, getränkt und bis zum Rande erfüllt und hineinverwandelt in das Licht und die Kraft, denen es sich ergeben hat“ (S. 535).

Frau von Görres gibt, und das gehört zu den unentbehrlichen Fakten der zeitgenössischen Auseinandersetzung um Therese von Lisieux, ein sehr weibliches Bild der Heiligen von Lisieux: mit der harten Liebe einer starken Frau, die selbst' sehr genau das klösterliche Milieu der letzten hundert Jahre kennt, entkleidet sie das von Männern nicht selten pathe-tisierte und sentimentalisierte Bild Theresens, schneidet es in Holz, in kräftige Formen des Holzschnitts. Bekanntlich sind weibliche Künstlerinnen oft viel männlicher als manche Männer. Hildegard von Bingen klagt ständig über das tempus muliebre, das weibische Zeitalter der Kirche. Es gehört zu den geheimen und offenbaren Verzweiflungen starker Frauen, im zeitgenössischen Katholizismus oft wenig männliche und mannhafte Züge vorzufinden. Die Frau ist, wenn naturbelassen und gottbelassen, eine nüchtern und kritisch Liebende. Von der die Männer immer viel lernen können. Das gilt gerade auch für das Bild der Heiligen von Lisieux, das Ida Friederike Görres schneidet. Es ist, und das erhöht seinen Stellenwert, ein offenes Bild: offen dem Geheimnis, dem Ungesagten und Unansagbaren in Person und geschichtlicher Erscheinung der Therese Martin. Es beansprucht nicht, ein letztes Wort über die Heilige zu formulieren. Ein Wort, das unmöglich ist, da die Prozesse des Lebens, der Strahlungen, die von Therese von Lisieux ausgehen, in keiner Weise abgeschlossen sind.

Die größte Bedeutung dieses nunmehr neu einer großen Leserschaft vorgestellten Buches sehen wir aber nicht sosehr im Hinblick auf Therese von Lisieux und nicht in Hinblick auf dieses Publikum, sondern darin, daß es eine Einladung an Theologen, Hagiographen und Geschichtsschreiber darstellt, die Geschichtsschreibung der Heiligen endlich einmal ernster zu nehmen. Und an Stelle der Klischees, der süßen und sauren Heiligenbilder, sich in Ehrfurcht zu bemühen, den„ ganzen Menschen in jedem Heiligen sichtbar zu /machen.. Unendlich viel Hilfe würde dadurch für die Seelsorge, für das Verständnis der christlichen Existenz in der Welt geleistet. Entrückt und ver-rückt, beladen mit unwahrscheinlichen Tugenden und Wundern vermögen so viele Heilige heute nicht mehr, menschlich gesprochen, wirksam zu werden, da sich die falschen Bilder von ihnen dem redlichen Verständnis unserer Mitmenschen entziehen. In diesem Sinne kann das zähe und tapfere Ringen der Ida Friederike Görres, die Heilige von Lisieux voll und ganz für den „gewöhnlichen“ Christen und Menschen unserer Tage zu erschließen, von jedem Mann nur mit Dank und Anerkennung gewürdigt werden.

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