Warum es gut ist, dass der neue Papst aus Europa kommt.
Die gute Nachricht: der neue Papst ist Europäer. Damit soll nicht einem - ohnedies längst obsoleten - Eurozentrismus das Wort geredet wären, den es mit letzter Kraft wenigstens noch für die Kirche als Illusion aufrecht zu erhalten gälte. Nein, aber Europa ist die zentrale Herausforderung für die (katholische) Kirche, hier finden die entscheidenden, auch quälendsten Auseinandersetzungen statt, hier wird die Kirche ihre eigentliche Bewährungsprobe zu bestehen haben.
"Nachdem die christliche Wahrhaftigkeit einen Schluss nach dem anderen gezogen hat, zieht sie am Ende ihren stärksten Schluss, ihren Schluss gegen sich selbst", heißt es in Friedrich Nietzsches "Genealogie der Moral". Das ist die geistige Befindlichkeit Europas: die (auch) aus der jüdisch-christlichen Tradition gespeiste Moderne hat sich erst in Abgrenzung und Gegnerschaft zu dieser ihrer Wurzel konstituiert. Das daraus resultierende Spannungsverhältnis besteht unvermindert fort. Oder, wie es die in jeder Hinsicht radikale evangelische Theologin Dorothee Sölle einmal formuliert hat: "hier ... ringt der Jakob der Neuzeit mit dem Engel: hier ... lässt der historisch-kritische Verstand nicht los, du segnest mich denn'." Seither, so Sölle, "hinkt die Theologie ..., geschlagen mit Bewusstsein".
Natürlich nimmt sich all das im Vergleich mit dem himmelschreienden Elend in anderen Weltgegenden harmlos aus; natürlich ließe sich argumentieren, dass der Papst aus einem jener Länder kommen sollte, die als Hoffnungsgebiete für die katholische Kirche (freilich auch für Freikirchen und Sekten jeder Art) gelten. Aber es wäre die einfachere - und deswegen schlechtere - Lösung gewesen. Die beschriebene europäische Herausforderung kann nur jemand aufnehmen, der diesen Kontinent in seiner geistigen und historischen Tiefenstruktur kennt. Und: den Finger auf die Wunden der Armut, Ungerechtigkeit und Ausbeutung zu legen, wie es Johannes Paul II. unermüdlich getan hat, bleibt auch Benedikt XVI. nicht erspart, wäre keinem auf dem Stuhl Petri erspart geblieben. Doch ist nicht auch in diesen Fragen der Westen bzw. Norden der erste Adressat - mit seinem unter dem Deckmantel des freien Handels praktizierten wirtschaftlichen Protektionismus, mit seinen Waffengeschäften, seiner Einwanderungspolitik, kurz: seiner doppelten Moral? Auch wenn viele der Probleme der "Dritten Welt" hausgemacht sind, so kann doch die Befreiung aus dem Elend nicht ohne Zutun der reichen Industrieländer geschehen.
Im übrigen läuft die Kirche auch Gefahr, mit der Thematisierung von Unrecht und Not vorschnell auf eine "sichere Bank" zu setzen. Hinter einem Papst, der Egoismus und Gier, ungehemmte Ökonomisierung und dergleichen mehr anprangert, scharen sich - aus guten Gründen - viele. Ein Pontifex, der für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung eintritt, wird - zu Recht - breite Zustimmung finden. Aber das alleine wird den "Grundwasserspiegel des Glaubens" im säkularisierten Europa nicht zu heben vermögen; das dispensiert daher die Kirchenleitung nicht von der Auseinandersetzung auf dem Areopag. Dort aber herrscht eine Art vordergründigen Interesses, schöngeistiger Neugier vor, die schnell in Langeweile kippt, wenn es an die Substanz geht. "Darüber wollen wir dich ein andermal hören", beschieden die Athener Paulus (Apg 17) und ließen ihn stehen.
Hier also tut sich ein immenses Betätigungsfeld für Benedikt XVI. auf. Eine Mammutaufgabe, die freilich - das muss im selben Atemzug gesagt werden - nicht unter der Prämisse eines reduzierten Verständnisses von Kirche als "Bollwerk wider den Zeitgeist" gelingen kann. Es wäre, im Gegenteil, auch seitens der Kirche deutlich zu machen, dass vieles, was wir unter der Chiffre "Zeitgeist" subsumieren, Errungenschaften sind, hinter die wir uns nicht zurück wünschen sollten - in gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer Hinsicht. Erst dann kann und muss mit großer Ernsthaftigkeit an die innerkirchlichen wie gesellschaftspolitischen "heißen Eisen" herangegangen werden. Und erst auf dieser Basis ist das Ringen mit dem "Jakob der Neuzeit" zu führen.
Dass Joseph Ratzinger um diese Dinge weiß, ist nicht zu bezweifeln. Was das für sein Pontifikat bedeutet, bleibt abzuwarten.
rudolf.mitloehner@furche.at
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