Flüge in dunkle Geschichte

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Unzählige Flugkilometer hat der Wissenschafter Gerd Tschögl hinter sich gebracht, um für sein Projekt "Vertrieben" den Spuren vertriebener Juden aus dem Burgenland nachzugehen.

Als Schock, als aus dem scheinbaren Nichts kommendes Unheil wird bis heute die Machtergreifung der Nazis im März 1938 im Burgenland gesehen. Österreichs jüngstes Bundesland galt bis dahin, so der Wissenschafter und Projekt-Betreiber Gert Tschögl, als multireligiöses, multiethnisches Gebilde, dessen funktionierendes Zusammenleben außer Streit steht. Dennoch bleibt der Zweifel, dass dies wohl nicht überall so gewesen sein kann, aufrecht. "Wie kann es dann sein, dass gerade im Burgenland bereits einige Tage nach dem 12. März 1938 erste Arisierungen und Vertreibungen stattgefunden haben?" fragt sich der 38-jährige Wissenschafter, der seit Juni 2001 im Auftrag der Burgenländischen Forschungsgesellschaft den Verbleib jüdischer Burgenländer nach 1938 erforscht.

Seine These: Aufgrund der Schnelligkeit der Enteignungen müssen bereits vor dem März 1938 detaillierte Listen über Vermögensverhältnisse und Grundbesitz unter den damals illegalen Nazis kursiert sein. Tschögl, der das an sich gute Zusammenleben in seinem Heimat-Bundesland nicht grundsätzlich in Abrede stellen möchte, macht auf die hohe Selbstdisziplin der ab 1934 illegal tätigen Nazis bis 1938 aufmerksam, die sich bis zum Anschluss ihrer Umwelt nicht zu erkennen gaben. "Das mag mit ein Grund gewesen sein, dass man hier im März '38 aus allen Wolken fiel", gibt er zu bedenken.

Als Beispiel nennt er den langjährigen Geschäftsführer eines von einem jüdischen Ehepaar geführten Ausstattungshauses, der auch privat enge Kontakte zur Familie hatte. Gleich nach dem Anschluss stellte er sich dann von einem Tag auf den anderen als Mitglied der NSDAP heraus und beschlagnahmte zuerst einmal das Auto der Unternehmerfamilie, die, bar jeden Eigentums, sofort flüchten musste.

Exerzierfeld der Nazis

Das Burgenland galt 1938 als Exerzierfeld der "geordneten Arisierung" fürs gesamte Deutsche Reich. Hier sollte juristisch einwandfrei der große Raub an den Juden legal durchgezogen werden, exemplarisch für alle weiteren Gebiete. Das Projekt "Vertrieben" ist weniger den Arisierungen, als den vertriebenen jüdischen Mitbürgern auf der Spur. Insgesamt schätzt man, dass um 1938 zwischen 3.800 und 4.000 Juden im Burgenland lebten. Bislang konnte die Datenbank rund 1.400 registrieren. Wesentliches Quellenmaterial konnte sich Tschögl über die im Landesarchiv in Eisenstadt bzw. in Graz gelagerten Arisierungsakten erschließen.

Hochbetagte Zeitzeugen

Im Mittelpunkt des Projektes "Vertrieben" stehen aber vor allem die Erinnerungen noch lebender jüdischer Burgenländer. Die Erinnerungen der hochbetagten Zeitzeugen, 1938 meist noch Kinder, die, in alle Welt verstreut, in den USA, in England, Israel oder in Südamerika leben, gewinnen ihr unverwechselbares Profil. "Als Kind, da hat man das nicht so gespürt. Wir haben das Ganze erst später verstanden, dass wir direkt aus dem Sarg entsprungen sind", erzählt etwa Rudolf Heinrich, der heute in Buenos Aires lebt, über die Ereignisse nach dem März 1938.

Unzählige Flugkilometer haben Gerd Tschögl und die Video-Künstlerin Eva Brunner-Szabo, die sämtliche Gespräche per Video aufgezeichnet hat, in den letzten Monaten zurückgelegt. Ihre Reisen zu den dunklen Seiten der österreichischen Geschichte führten sie in die USA, nach Schottland und England oder eben nach Buenos Aires, wo nicht nur Rudolf Heinrich heute lebt, sondern auch die 1919 in Eisenstadt geborene Martha Mond. Ihre wohlhabende jüdische Familie gehörte zu den ersten in Eisenstadt, welche die Gestapo vertrieb und beraubte. Befragt nach ihrem Verhältnis zu Österreich meint sie: "Es ist nicht eine wirkliche Liebe zu Österreich, aber es ist etwas, woher ich komme, ich bin nach Argentinien gekommen, weil ich nirgends anders Eintritt bekommen habe." Das Gefühl zufälligen Lebens, die Skepsis der Vertriebenen gegenüber "ihrem" Österreich kommt immer wieder in den Interviews vor.

So erinnert sich Kurt Heinrich, der heute mit seiner Frau Maria Elena in den USA lebt, an seine ersten Besuche in Österreich nach 1945: "Wie ich nach Österreich gekommen bin, da konnte man über solche Sachen (Vertreibung; Anm.) noch nicht reden. Und die Sache war schwierig, da war so eine Verschwörung - wie sagt man - des Schweigens, niemand hat darüber gesprochen, niemand war ein Nazi gewesen, niemand wusste etwas, und so habe ich mich, ehrlich gesagt, nicht wohl gefühlt." Vergessen kann man nicht: Auch dieses Gefühl taucht in nahezu allen Gesprächen auf. Was noch hinzukommt: Die Vertreibung der jüdischen Mitbürger geschah durchwegs nicht in städtischen Verhältnissen, sondern oftmals in den Dörfern, wo man sich kannte, als Kinder miteinander die Schule besuchte, am Nachmittag gemeinsam spielte, die Eltern miteinander oft engen Kontakt pflegten.

"Sieben heilige Gemeinden"

Historisch spielt die jüdische Geschichte und Kultur im westungarischen Raum bzw. ab 1921 im Burgenland eine bedeutsame Rolle. Die "Schebha qehillot", die "Sieben (heiligen) jüdischen Gemeinden" etwa in Deutschkreutz, Eisenstadt, Frauenkirchen, Kittsee, Kobersdorf, Lackenbach und Mattersburg zählten bald nach 1670 - der Ausweisung der Juden aus Wien - zu den bedeutendsten jüdisch-orthodoxen Gemeinden Europas. Im Süden des Burgenlandes spielte jüdisches Leben vor allem in Schlaining, Rechnitz und Güssing eine wichtige Rolle. Schlaining, heute als Sitz diverser universitärer Friedensinitiativen bekannt, war auch der Ursprungsort des Projektes, erzählt Tschögl.

Im Jahr 2001 fand hier auf Betreiben katholischer und evangelischer Gruppen eine Wiedersehensfeier mit im Jahr 1938 vertriebenen jüdischen Mitbürgern statt, welches in weiterer Folge immer mehr Fragen nach anderen Vertriebenen aufwarf. Tschögl: "Einige dieser Fragen hoffen wir mit unserem Projekt beantworten zu können". Neben der Datenbank (www. forschungsgesellschaft.at/vertrieben.htm), die nicht nur Zugang zu den bislang erfassten Lebensläufen bietet, sondern auch Informationen zu burgenländischen Erinnerungsorten bereithält, plant Tschögl auch noch eine entsprechende Publikation, die im heurigen Herbst auf den Markt kommen soll. "Im Mittelpunkt werden hier die knapp 30 Lebensläufe der von uns aufgesuchten vertriebenen Menschen stehen, stellvertretend für alle anderen", betont der studierte Völkerkundler zuletzt.

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