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Wer die Sehnsucht nicht kennt ...

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Fritz Kalmar lebt seit beinahe 50 Jahren in Lateinamerika, wohin er vor den Nationalsozialisten flüchtete. Ein Porträt des Juristen, Schauspielers, Theaterleiters und -autors, dessen Buch „Heimwehgeschichten aus Südamerika” kürzlich in Wien erschien.

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Fritz Kalmar lebt seit beinahe 50 Jahren in Lateinamerika, wohin er vor den Nationalsozialisten flüchtete. Ein Porträt des Juristen, Schauspielers, Theaterleiters und -autors, dessen Buch „Heimwehgeschichten aus Südamerika” kürzlich in Wien erschien.

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Ich darf mich nicht beklagen über das Schicksal. Natürlich leide ich immer noch darunter, nicht in Wien zu leben; das tut weh. Aber in Uruguay sind die Menschen offenherzig und ungemein hilfsbereit. Ich habe eine uruguayische Familie gefunden, die ich meine zweite Familie nenne. Ein Ehepaar mit vier Kindern. Das ist eine enorme Erleichterung, um das Gefühl des Hängengebliebenseins auszuhalten. So bemühe ich mich eben, jedes Jahr einmal nach Wien zu kommen und ein paar Wochen hier zu sein, bei meiner Familie und in meiner Heimat.”

Der da ohne Scheu seine Liebe zu Österreich und Wien ausdrückt, ist einer der vielen, die von dieser Heimat verstoßen wurden - und es sich noch als Glück anrechnen mußten, lebend dem Inferno des Nationalsozialismus entronnen zu sein. Fritz Kalmar, ausgebildeter Jurist mit lebenslanger Hinneigung zu Literatur und Theater, flüchtete 1938 aus Österreich. Der schmächtige, damals 27jährige Mann fand Arbeit auf einem norwegischen Schiff, auf dem er sechs Monate lang die Meere befuhr - bis er schließlich im fernen Bolivien landete. Ein Schulkollege vom Gymnasium in der Wa-sagasse im 9. Bezirk war bereits im südamerikanischen Andenstaat gelandet und hatte Fritz eine Einreisebewilligung an das Honorarkonsulat in Rotterdam geschickt, wo es dieser bei einem der Zwischenstopps des norwegischen Frachters abholen konnte.

Exilant & Asylanten

Auch heuer im Herbst reiste der bereits 86jährige Altösterreicher nach Wien, wo noch Bruder Heinz - auch er einst im bolivianischen Exil - lebt. Diesmal sollte sein Besuch aber anders verlaufen als die früheren Male: Fritz Kalmar fand sich plötzlich im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Grund dafür war sein Buch „Das Herz europaschwer. Heimwehgeschichten aus Südamerika”, das der Wiener Pi-cus-Verlag soeben herausgebracht hatte. Mehrere Lesungen, Interviews für drei Bundfunksendungen, Gespräche mit Journalisten.

Zum erstenmal hatte ich in den siebziger Jahren von einem Senor Kalmar gehört, von uruguayischen ”Flüchtlingen in Österreich, die berichteten, dieser Herr, der österreichische Honorarkonsul in Montevideo, habe ihnen mit großem Einsatz dabei geholfen, der Militärdiktatur zu entrinnen und in Österreich Asyl zu erhalten. Bei dem bescheidenen ehemaligen Konsul, dem ich nun in einem Altwiener Cafe gegenübersitze, klingt diese Geschichte, die eines internationalen Menschenrechtspreises würdig wäre, freilich anders: „Ich würde mir nicht erlauben, mir das Verdienst zuzurechnen, diese Leute gerettet zu haben. Aber ich habe mich bemüht, ihnen zu helfen, wo ich konnte. Ich habe manche im Gefängnis besucht, und vor allem habe ich mich um die Familien gekümmert, solange die Männer eingesperrt waren. Das war in wirksamer Weise dadurch möglich, daß ich mit ,amnesty international' in Österreich eine enge Verbindung aufgenommen hatte, da haben wir dann gemeinsam diese Hilfe systematisiert, und das hat gut funktioniert.”

Hat Kalmar die Erinnerung an das Österreich der Zwischenkriegszeit, die Jahre der wirtschaftlichen Not, der Massenarbeitslosigkeit, der zunehmenden Auseinandersetzung zwischen Sozialdemokratie und nationalem Faschismus idealisiert? Keine Verdrängung, wohl eher eine in langen Jahren erworbene Charaktereigenschaft, an das Gute im Menschen zu glauben. Eine Eigenschaft, die sicher auch den Auswahlmechanismus der Erinnerung beeinflußt. So kann der alte Herr heute noch schelmisch lächeln, wenn er sich erinnert, wie in seiner Jugend arischen Badfahrern aus der Leopoldstadt „Saujud!” nachgerufen wurde. Die Fahrräder hatten nämlich damals Nummerntafeln, bestehend aus einem Buchstaben, dem Anfangsbuchstaben des Wohnbezirks, und einer Nummer. Zum Beispiel „L” für die vorwiegend jüdische Leopoldstadt, den zweiten Wiener Gemeindebezirk. Wenn nun ein arischer Badler mit dem „L” auf der Tafel durch die Staat fuhr, so konnte es ihm schon passieren, daß er von den „echten Wienern” mit dem schlimmsten Schimpfwort bedacht wurde, dessen ihr reinrassiges Hirn fähig war.

Wasa-Gymnasium

Im Wasa-Gymnasium, in dem Kalmar acht Jahre Mittelschule absolvierte und maturierte - wie viele andere namhafte Vertreter des österreichischen Kulturlebens: Stefan Zweig, Friedrich Torberg, Erich Fried, Marcel Prawy u. a. —, war von Antisemitismus allerdings wenig zu spüren, denn die Mehrzahl in der Klasse war jüdisch. Schon damals fühlte sich der scheue schmalwüchsige Junge stark zu Literatur und Theater hingezogen, schrieb erste Gedichte und Stücke für Schüleraufführungen. Wie es der Zufall will, zeigt gerade während Kalmars diesjährigem Wienaufenthalt das Jüdische Museum eine Ausstellung über den von den Nazis ermordeten Autor und Kabarettisten Peter Hammerschlag, der den neun Jahre jüngeren Schüler stark beeinflußte. Fast siebzig Jahre später ist Kalmar bei der Eröffnung der Ham-merschlag-Gedenkausstellung dabei.

Liebe zum Theater

Später, im Exil, sollte die Vorliebe fürs Theater Fritz Kalmars Leben eine ausschlaggebende Wende geben. 1939 kommt er nach Bolivien. Ein Bruder, Fritz, ist schon vorher auf abenteuerliche Weise in den Andenstaat gekommen, da er in Peru keine Aufenthaltsgenehmigung erhielt. Heinz, ein zweiter Bruder, kommt später nach, ebenso die Mutter. Der Exilösterreicher erinnert sich: „In La Paz traf ich mit zwei Menschen zusammen, die für mich lebensentscheidend waren: das Ehepaar Terramare. Erna Terrel und George Terramare. Sie waren unglücklich, so weit weg vom Theater zu sein. Eines Tages habe ich ihm gesagt: Schauen Sie, es gibt doch hier Leute, mit denen Sie ein bißchen Theater machen könnten, und habe ihm einige Namen genannt. Er war ganz beglückt von dem Gedanken, und da haben wir dann begonnen, Theater zu spielen.”

Der Wiener George Terramare, katholischer Industriellensohn jüdischer Herkunft, war ein im deutschen

Sprachraum anerkannter Theaterre-gisseur und -leiter, zuletzt im tschechischen Troppau. Aus seiner Zeit bei den „Klosterspielen” im Wiener Schottenstift kannte er die Sängerin und Schauspielerin Erna Beutel, die sich später, nach der Heirat mit Terramare, den Künstlernamen Terrel zulegte. Am Deutschen Theater in Prag war Erna Terrel eine beliebte und erfolgreiche Schauspielerin, als die Nationalsozialisten die Tschechosloswakei besetzten. Sie stellten der populären Künstlerin eine glänzende Karriere bei Theater und Film in Aussicht, wenn sie sich von ihrem jüdischen Mann scheiden ließe, doch Erna Terrel lehnte ab. Das Künstlerpaar floh nach Bolivien; zwei Tage nach ihrer Abreise aus Prag drang die Gestapo in ihre Wohnung ein, um die beiden zu verhaften.

Etwa 12.000 aus Österreich gebürtige Menschen - der Großteil jüdischer Herkunft - flohen vor dem Nationalsozialismus nach Lateinamerika und ließen sich dort, aus klimatischen und wirtschaftlichen Gründen, vor allem im südlichen Teil des Kontinents nieder. Etwa ein Zehntel von ihnen verschlug es nach Bolivien, in den isolierten Andenstaat mit seiner großteils indianischen Bevölkerung, dessen Hauptstadt La Paz auf fast viertausend Meter Meereshöhe liegt. Das Andenland war—im Gegensatz zum städtischen, hochentwickelten Nachbarn Argentinien - eine in sich geschlossene und nach westlichen Begriffen völlig rückständige Gesellschaft, in der mehr als drei Viertel der Bevölkerung auf dem Lande lebten und Analphabeten waren.

„Bunte Abende”

Trotz der widrigen äußeren Umstände, vielleicht aber gerade wegen der isolierten Situation der relativ zahlreichen Immigranten, entwickelte sich unter ihnen ein reges Kulturleben. Der erste Anstoß für kulturelle Aktivitäten war eine Badiostunde, die von österreichischen Emigranten, darunter auch Terramare und Kalmar, ab August 1939 beim bolivianischen Nationalradio gestaltet wurde. George Terramare gründete im Oktober 1939 die „Kleine Ca-sino-Bühne” und etwas später die „Bühne der freien Österreicher”. Kalmar: „Wir haben viel Theater gemacht. Unsere ,Bunten Abende' haben das Publikum umgeworfen - nicht nur das österreichische, alle, die deutsch gesprochen haben. Wir schrieben alle Texte selbst, Terramare, ich und gelegentlich auch Erna, die u. a. ein sehr hübsches Chanson über Wien komponiert hat. Es drehte sich alles immer um Wien, teils heiter, teils wehmütig, mit viel Heimweh drin.”

1948 stirbt Georg Terramare an einem Herzleiden. Fritz Kalmar übernimmt seine Theaterarbeit und leitet daneben ein angloamerikanisches Ensemble, an dessen Aufführungen Erna

Terrel ebenfalls mitwirkt. Fünf Jahre später heiraten die beiden und ziehen nach Montevideo, da die Ärzte der Sängerin von einem Verbleib in der hochgelegenen bolivianischen Hauptstadt abrieten, ihres hohen Blutdrucks wegen. Mit dem Ehepaar Kalmar übersiedeln auch andere Mitglieder der österreichischen Theatergruppe nach Uruguay und setzen dort die Bühnenarbeit fort. Doch zuerst gilt es, sich wieder eine materielle Existenzgrundlage zu schaffen. Erna versucht es mit handgemalten Weihnachtskarten, Fritz Kalmar arbeitet als kleiner Angestellter, beginnt dann als Journalist und Korrespondent deutschsprachiger Zeitungen, engagiert sich in der diplomatischen Vertretung seines Heimatlandes. Insgesamt 37 Jahre ist er als Vertreter österreichischer Interessen in Uruguay tätig, zuerst als Vizekonsul, dann als Honorarkonsul und schließlich als Leiter des Amtes. Die Tatsache, daß das Ehepaar 1953 nach Montevideo und nicht nach Wien übersiedelte, bereut Fritz Kalmar heute noch: „Das war der größte Fehler unseres Lebens, daß wir damals nicht nach Wien gegangen sind. Aber meine Frau hatte ein Zwölf -fingerdarmgeschwür, Wien war noch besetzt, und man hat gelegentlich gelesen, daß Leute entführt wurden. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt einfach Angst vor der Rückkehr. Hätten wir gewußt, daß zwei Jahre später die Besatzungstruppen abziehen, hätten wir wohl zwei Jahre des Lebens in Angst in Kauf genommen.” Nach der Pensionierung Kalmars im Jahr 1976 wäre eine Übersiedlung wieder aktuell gewesen, doch das Schicksal wollte es anders. „Im Februar 1977 erhielt ich meine erste Pensionsauszahlung - und im März hatte meine Frau einen Schlaganfall. Damit war der Gedanke einer Rückkehr nach Wien erledigt.” Über achteinhalb Jahre ist Erna krank, im Dezember 1985 stirbt sie.

Keine Anklage

In den Jahren in Uruguay ist Fritz Kalmar auch literarisch aktiv. 1977 wird ein Schauspiel von ihm unter dem Pseudonym Harald Hauser am Wiener Volkstheater aufgeführt: „Im Schatten des Turmes.” Und langsam entstehen auch die „Heimwehgeschichten”, die heuer endlich in Buchform erschienen sind. In Bolivien war Kalmar mit vielen Landsleuten in Kontakt gekommen und hatte viele Schicksale kennengelernt. Bernhard Springer etwa aus dem 20. Wiener Gemeindebezirk, der Rabbiner werden wollte und schließlich als Kellner in einem kleinen verstaubten Kaffeehaus in der Wallensteinstraße landete. Oder die Hutmacherin Finnerl, die selbst in der subtropischen Yunga-Region Boliviens an die Steiermark denkt. Kalmar stellt seine Charaktere - durchwegs Menschen, die hier wie dort zu den „einfachen” Leuten gehören - mit viel Liebe und Einfühlungsvermögen dar. Er klagt nie an, verurteilt niemanden, und gerade dadurch wird der nationalsozialistische Rassenwahnsinn in seiner Menschenverachtung deutlich.

Fritz Kalmar entstammt keiner orthodoxen Familie, doch kurz vor seiner Auswanderung besuchte er eine Synagoge. Und heute noch erinnert er sich ganz genau an einen Satz des damaligen Oberrabbiners von Wien, Dr. Taglicht: „Schaue mit deinen Augen, höre mit deinen Ohren und richte dein Herz auf alles, was sich dir zeigt, sagt Gott.” Das klingt wohl banal, gesteht der alte Herr ein, „doch wenn man näher hinhört, so enthüllt sich ein tieferer Sinn: Die Mittel, die einem Gott geschenkt hat, sind zu dem Zweck einzusetzen, zu dem sie einem gegeben wurden”.

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