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Genetisch bedingte Strukturen

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Mit der Pubertät ist die sexuelle Orientierung im wesentlichen abgeschlossen. Eine Prägung entgegen der ererbten Disposition ist nicht möglich.

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Mit der Pubertät ist die sexuelle Orientierung im wesentlichen abgeschlossen. Eine Prägung entgegen der ererbten Disposition ist nicht möglich.

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Die Homosexualität ist ein - gerade auch in kirchlichen Kreisen -immer wieder kontrovers diskutiertes Thema. Der Auffassung, sie stelle eine der Heterosexualität gleichwertige Variante der menschlichen sexuellen Orientierung dar, steht die Ansicht gegenüber, sie sei Ausdruck einer psychischen Fehlentwicklung und einer Seinsverfehlung. Derartige Aussagen fordern dazu heraus, die Humanwissenschaften auf ihren heutigen Kenntnisstand hin zu befragen.

Die genetische Forschung sowie Familien- (insbesondere Zwillings) Untersuchungen und unsere entwicklungspsychologischen Kenntnisse lassen erkennen, daß den homosexuellen Orientierungen offensichtlich eine ererbte Disposition zugrundeliegt. Hin zu kommen Erfahrungen, die sehr früh im Leben des Kindes die Weichen in Richtung einer gleichgeschlechtlichen Attraktion stellen. Dabei geht es in keiner Weise um wie auch immer geartete „Erziehungsfehler“ der Eltern, wie evangelikale Autoren in einer vor allem die Mütter erheblich diskriminierenden und kulpabilisierenden Weise immer wieder postulieren. Die Forschung zeigt uns, daß die Entwicklung der sexuellen Orientierungen spätestens mit dem Erreichen der Pubertät in ihren wesentlichen Zügen abgeschlossen ist. Aufgrund unserer heutigen entwicklungspsychologischen Kenntnisse können wir deshalb auch sagen, daß eine „Verführung“ zur homosexuellen Orientierung unmöglich ist. Kinder und Jugendliche können nicht zu etwas „verführt“ werden, was ihrer eigentlichen Identität nicht entspricht. Wenn es um sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern geht, so handelt es sich um sexuelle Ausbeutung, und diese hat nichts mit der sexuellen Orientierung zu tun. Die Gewaltforschung zeigt vielmehr, daß solche Übergriffe in erster Linie von heterosexuellen Männern gegenüber Mädchen erfolgen. Es entbehrt deshalb die Annahme, Pädophilie, sexuelle Gewalt gegen Kinder und Homosexualität seien gleichzusetzen, jeglicher Grundlage. Diese Rehauptung erweist sich als besonders perfide Verleumdung, weil damit starke negative Emotionen in der Revölkerung geweckt werden und homosexuelle Menschen durch derartige Diskriminierungen - einmal mehr- zu Opfern von Gewalt werden.

Wenn es um die Entwicklung zur Hetero- oder Homosexualität geht, taucht immer wieder auch die Frage auf, ob es denn in jedem Menschen hetero- und homosexuelle Anteile gebe. Gewiß kann man von homoerotischen Gefühlen bei intensiven Freundschaften unter Männern und Frauen sprechen. Eine lesbische oder schwule Orientierung ist jedoch etwas völlig anderes. I lier kommen zu den liebevollen Gefühlen gegenüber den gleichgeschlechtlichen Partnerinnen und Partnern die auf sie gerichteten sexuellen und erotischen Phantasien, die sozialen Präferenzen und die gleichgeschlechtliche Partnerwahl hinzu. Die sexuel-len Orientierungen bilden das Resultat eines komplizierten Wechselspiels zwischen diesen verschiedenen Persönlichkeitsanteilen und stellen bei aller Weltoffenheit des Menschen eine nicht veränderbare Struktur dar. Weder die heterosexuelle noch die homosexuelle Orientierung läßt sich durch irgendwelche Maßnahmen verändern. Unternimmt man dennoch derartige Versuche, wie sie von manchen Gruppierungen propagiert werden, so ist dies untherapeutisch mid unethisch, da Lesben und Schwule dadurch nicht auf dem Weg ihrer Selbstwerdung begleitet werden, sondern dazu gebracht werden sollen, im Widerspruch zu ihrer eigentlichen Identität zu leben.

Wenn es um gleichgeschlechtliche Partnerschaften geht, taucht mitunter die Frage auf, ob die beiden Part nerinnen respektive Partner in diesen Reziehungen - wie in den heterosexuellen Verbindungen - „weibliche“ und „männliche“ Rollen einnehmen. Hinter einer solchen Frage steht die Annahme, selbst in gleichgeschlechtlichen Reziehungen bestünden die für den heterosexuellen Rereich typischen komple-Ver-Es mentären hältnisse. scheint unvorstellbar zu sein, daß die beiden Partnerinnen oder Partner in ganz anderer Weise aufeinander bezogen sind. Damit wird die Tatsache ausgeblendet, daß gerade die lesbischen und schwulen Verbindungen die Chance in sich bergen, andere, neuartige Beziehungsformen zu entwickeln und zu leben. Der Hauptunterschied zur heterosexuellen Ehe traditioneller Art liegt eben darin, daß in der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft die Machtverhältnisse nicht am Geschlecht festgemacht werden können und die Rollenverteilung ganz individuell ausgehandelt werden muß.

Rei der Diskussion des Themas Homosexualität fällt auf, daß viele Menschen dabei nur an schwule Männer denken, während die lesbischen Frauen oft gar nicht wahrgenommen werden. Dies liegt nicht nur daran, daß sie die zahlenmäßig kleinere Gruppe darstellen, sondern ist vielmehr Ausdruck einer doppelten Diskriminierung: Dieses Nicht-Wahrnehmen ihrer Existenz beruht zu einem nicht unwesentlichen Teil darauf, daß in unserer Gesellschaft den Frauen ganz allgemein sexuelle Redürfnisse und Impulse weitgehend abgesprochen werden. Vielfach werden sie lediglich über den Mann definiert und als „Objekt“ seines Regehrens gesehen. Wenn nun jedoch die lesbische Frau mit einer durch ihre Partnerinnen-wähl ausdrücklich nicht auf den Mann bezogenen • Sexualität in Erscheinung tritt, versuchen breite Kreise der Revölkerung diese sie irritierende Tatsache auszublenden, was sich am einfachsten durch das Nicht-Wahrnehmen der lesbischen Frauen bewerkstelligen läßt.

Der Autor ist

Professor für Klinische Psychologie an der Universität Basel.

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