Die Jugendlichen haben es schwerer denn je, ihre eigene Identität zu finden, meint der Soziologe und Generationenforscher Leopold Rosenmayr.
die furche: Als der Deutsche Michael Schumacher kürzlich Formel-1-Weltmeister wurde, konnte man im Fernsehen sehen, wie ihm die vorwiegend jugendlichen Fans buchstäblich zu Füßen lagen. Auch der schlimme Motorradunfall des österreichischen Nationalhelden Hermann Maier hat viele junge Leute offensichtlich sehr bewegt. Warum werden Sportler als so großartige Idole gesehen?
Professor Leopold Rosenmayr: Sie erbringen besondere Leistungen, die nicht unmittelbar mit dem täglichen Leben zu tun haben. Das Außerordentliche, die Gefahr, das Risiko sind in einer Welt voller Alltagsbelanglosigkeiten gefragt ...
die furche: War das nicht immer so?
Rosenmayr: Nein. Die Vorbildfrage hängt an der Organisation der Gesellschaft. Wo es keine Kontinuität gibt, dort gibt es auch keine Vorbilder. Die jetzige pluralistische und auf Individualität zielende Gesellschaft kann gar keine Vorbilder entwickeln, höchstens "Merkzeichen". Denn Vorbilder bedürfen einer gewissen Kontinuität, um wirksam zu sein. Das heißt, sie müssen auch in die reale Alltagssituation miteinbezogen werden können. Das wären zum Beispiel Personen in Institutionen, die bestimmte politische oder religiöse Werte verkörpern. Früher konnte man sich mehr mit realen Personen identifizieren und war weniger auf "Masken" angewiesen. Konkrete Menschen aus einer real erfahrbaren Welt spielten als Vorbilder eine viel größere Rolle als heute. Jugendführer zum Beispiel, die in Vereinen oder ähnlichen Organisationen tätig waren. Zwei Drittel der 15- bis 20-Jährigen waren in den sechziger Jahren in Österreich noch in Vereinen organisiert und auch tätig. Je nach Beruf des Vaters fand man sie bei der Gewerkschaftsjugend, der Katholischen oder Sozialistischen Jugend oder in sonstigen Verbänden. Diese Organisationen bestehen heute zum größten Teil aus Karteileichen, ohne ein Vereinsleben wie damals. Sie haben Ziele vorgestellt und Gemeinschaftsleben organisiert. Heute ersetzt die "Szene" die Organisation, und der Markt bestimmt über Werbung und Fernsehen die Vielfältigkeit von Idolen und Vorbildern.
die furche: Welche Rollen spielen die Eltern dabei?
Rosenmayr: Die Außeneinflüsse setzen heute schon sehr früh ein. Zwei Drittel bis drei Viertel der Kinder zwischen vier und zehn Jahren sehen täglich zwischen zwei und vier Stunden allein (!) Videos und/oder TV. Die Identifizierungschancen in der Kindheit mit den Eltern sind zurückgegangen. Das hat ökonomische Gründen wie den Jobdruck, aber auch psychische wie einen gewissen Hedonismus bei den Eltern.
An die Stelle von Identifizierungen wie sie früher zum Beispiel durch Eltern und Jugendorganisationen gefördert wurden, ist bei den Jungen die Identitätssuche getreten. Die Jungen müssen sich in die frühe Unsicherheit einer weitgehend vorbildlosen Suche nach Orientierung begeben.
Der Transport von Überzeugungen von einer Generation in der Familie auf die andere ist stockend und lückenhaft geworden, er wird sich vermutlich weiter abschwächen. Das verursacht auch eine "Mobilität der Überzeugungen".
Die Eltern werden positiv bewertet, weil es den Jungen durch deren Unterstützung weitaus besser geht als ohne sie. Die Familie verliert zwar den Vorbildcharakter, aber behält oder steigert den finanziellen Versorgungscharakter. Daher stimmen zwar die positiven Urteile über die Eltern, sie werden aber häufig - besonders von konservativer Seite - fehlinterpretiert. Eltern geben materielle Sicherheit, aber sie geben den Jungen weniger Orientierung als früher.
die furche: Es zeigt sich auch, dass Supermenschen wie Arnold Schwarzenegger bei den Jungen nicht mehr so gut ankommen.
Rosenmayr: Arnold Schwarzenegger ist zu massiv und wuchtig für die meisten Jugendlichen und wird deswegen auch ironisiert. Außerdem ist mit ihm sehr viel Leistungsmentalität verbunden. Der muss ja dauernd was Anstrengendes tun und sich beweisen. Das hat für die Jugend heute keine besondere Vorbildwirkung mehr. Man will cool das kriegen, was man gerne hätte. Also zum Beispiel Geräte, Berater, Animateure im Freizeitbetrieb. Die Dinge müssen sich "locker" machen lassen, so wie das Hermann Maier vorführt. Der zeichnet sich durch Witz und Lockerheit aus und kommt deswegen auch gut an.
die furche: Bei Gesprächen mit Jugendlichen fällt auf, dass sie für Politiker absolut nichts mehr übrig haben. Warum?
Rosenmayr: Bei uns ist die Jungwählerquote im Keller. Deutsche Jugendstudien zeigen, dass zwei Drittel der Jungen ein Misstrauen gegen Politiker haben. Die politische Beteiligung der Jungen geht gegen Null, ebenso das politische Interesse durch Glaubwürdigkeitsverlust der Politiker. Dieser Verlust ist auch auf die Art und Weise zurückzuführen, wie in der Politik mit Konflikten umgegangen wird. Die völlige Abwertung des Gegners in allem und jedem spricht diesem jede Legitimität ab. Die wechselseitige Entwertung der Politiker untereinander trägt zu deren eigenen Entwertung bei den Jungen entschieden bei.
die furche: War somit John F. Kennedy das letzte Idol einer jungen Generation?
Rosenmayr: Von ihm ging sicher eine entsprechende Ausstrahlung aus. Man mag das auch Charisma nennen. Kennedy hat gewisse Werte vorgestellt, für die man sich einsetzen konnte: Hilfe in der Dritten Welt, neue gesellschaftliche Entwicklungen, die auf Überwindung des Rassenhasses gingen. Wir haben hingegen in Österreich noch Phrasen im Ohr wie: "Wer Visionen hat, braucht einen Arzt". Wo sind leuchtende Antworten auf brennende Fragen? Es wagt sich ja niemand heraus, und wenn, dann nur negativ. Es ist eine feige Gesellschaft geworden, die wartet oder in Deckung geht. Aus der Deckung heraus wird dann Polemik über den anderen geschüttet, aber selbst wagt sich keiner mit einer zündenden Idee hervor.
die furche: Durch psychosoziales und mediales Styling wollen sich die Politiker jetzt offensichtlich die verlorengegangene Glaubwürdigkeit zurückholen. Man lässt sich wie Deutschlands Verteidigungsminister Rudolf Scharping beim verliebten Turteln mit der Freundin im Swimmingpool auf Mallorca gezielt ablichten.
Rosenmayr: Natürlich machen sich jetzt auch Politiker persönlicher, hübscher, verliebter oder zeigen sich gelassener, als sie wirklich sind. Diese Doppelgesichtigkeit, Persönliches und Privates als Maske für öffentliche Selbstdarstellung einzusetzen, wird das Image aber nur noch weiter runterrasseln lassen. Man merkt die Absicht und ist verstimmt.
die furche: Die 68er-Generation hatte es da wohl leichter. Es gibt heute keine Befreiungskämpfer mehr wie Che Guevara, die in unsere Welt rückübersetzt werden könnten.
Rosenmayr: Die Leitfiguren der 68er haben ja aus ihrem eigenen Kompetenzbereich heraus versucht, glaubwürdig zu werden. Die haben sich wirklich bei den Demos prügeln lassen. Die sind auch selbst in die Hörsäle einmarschiert mit ganz bestimmten Formeln, haben Happenings gesetzt und Sprüche geklopft. Die waren mit den Zielen, die sie vertreten haben, und ihrem Tun absolut ident.
die furche: Auch die sich neu formierenden, vorwiegend jungen Globalisierungskritiker müssen ohne Idole oder Vorbilder auskommen ...
Rosenmayr: Die jetzige Bewegung hat einen anderen Charakter als die 68er Bewegung. Damals gab es ganz konkrete Ziele konkreter Vorbilder, die sich hervortaten, wie Rudi Dutschke oder Daniel Cohn-Bendit. Die jetzige Materie lässt sich nicht so leicht umsetzen in die von den Jungen erfahrbaren, gesellschaftlichen Strukturen. In der ganzen Globalisierungsdiskussion gibt es keinen Bezug zur Schule oder zur Familie und auch keinen zur Uni. Oder er ist noch nicht entdeckt und dargestellt worden. Es gibt auch noch keine profilierten, mit Charisma und Bildung ausgestatteten Persönlichkeiten, die sich in dieser Bewegung sichtbar machen. Das könnte aber noch kommen.
die furche: Ist unsere Welt noch eine der Ideale und Vorbilder?
Rosenmayr: Nein, sicher nicht. Der Kampf um die Selbstwerdung der jungen Leute ist außerordentlich schwierig, die Suchprozesse nach Identität sind aufwändiger geworden. Eine Abstützung auf Vorbilder kann nur mehr sehr teilweise zur Reifung der Persönlichkeit beitragen. Man muss sich vielmehr die Elemente zusammensuchen, die dann zu einer gewissen eigenen Glaubwürdigkeit und zu einem gewissen Reifungsprozess beitragen. Man surft in der Landschaft der "Szenen", von der Disco-über die Sport- und Beislszene bis zu selbstproduzierten Kulturszenen - wie man eben im Internet surft. Daher kann man von einem "Recherchen-Ich" sprechen.
Dabei besteht natürlich die Gefahr, sich auf Idole einzulassen, die extra für die Jugend gemacht und vorstrukturiert werden. Es geht daher darum, den Jungen behilflich zu sein bei ihrem eigenen Selbstfindungsprozess. Sie brauchen Stützungen und Anregungen. Wer meint, er müsse sich ganz bewusst als Vorbild aufspielen, wird keinen Erfolg haben.
Vorbild kann nur jemand sein, von dem man merkt, dass er sich auch selbst bemüht. Niemals direkt Vorbild sein, sondern helfend beistehen zu wollen, das wäre die schönste Form des Vorbildseins heute. Dazu gehört auch eine gewisse dosierte Selbstenthüllung über die eigenen Schwächen und das merkbare, eigene Suchen nach Lösungen für sich selbst und für Probleme, wie sie unser Leben und die Welt heute aufwerfen.
Das Gespräch führte Elfi Thiemer.