Modell einer gerechten Welt

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Bei der Abfassung des Sozialhirtenbriefes der österreichischen Bischöfe vor genau zehn Jahren konnten zum ersten Mal verschiedene gesellschaftliche Gruppen Beiträge einbringen.

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Bei der Abfassung des Sozialhirtenbriefes der österreichischen Bischöfe vor genau zehn Jahren konnten zum ersten Mal verschiedene gesellschaftliche Gruppen Beiträge einbringen.

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Am 15. Mai 1990 erschien der Sozialhirtenbrief der katholischen Bischöfe. Die Veröffentlichung dieser kirchlichen Stellungnahme fiel in eine Zeit wachsender Arbeitslosigkeit und in eine Umbruchsphase des österreichischen Sozialstaates.

Bedingt durch die Ostöffnung wurde auch die Flüchtlingsfrage virulenter. Zitat Sozialhirtenbrief: "Wir werden uns noch viel mehr bemühen müssen, die Vorurteile gegenüber Fremden und Ausländern abzubauen und diesen Menschen nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine mitmenschliche Heimat zu geben." Der Sozialhirtenbrief 1990 benannte diese anstehenden sozialen Probleme genauso wie er das Thema Frauen, Ökologie oder die Sonn- und Feiertagsfrage aufgriff und löste damit zahlreiche Diskussionen zu sozialen Fragen aus.

Das Projekt "Sozialhirtenbrief 1990" gab Anlass zu verschiedenen sozialen Initiativen in den genannten Bereichen. Unter Beteiligung vieler engagierter Christinnen und kirchlicher Einrichtungen ist es etwa gelungen, mit der Armutskonferenz und den verschiedenen lokalen und regionalen Armutsnetzwerken ein Anliegen des Sozialhirtenbriefes auf den Weg zu bringen: das Problem der neuen Armut. Auf das Problem der Benachteiligung von Frauen in der Gesellschaft wurde im kirchlichen Bereich in den meisten Diözesen mit der Einrichtung von Frauenkommissionen reagiert, wovon wichtige Impulse ausgegangen sind.

Dem Erscheinen des Sozialhirtenbriefes war ein länger andauernder Diskussionsprozess vorangegangen. Über 2000 Stellungnahmen zum Grundtext "Sinnvoll arbeiten - solidarisch leben" von über 14.000 Personen waren bis November 1989 eingegangen. Diese neue Methode, die bei der Abfassung des Sozialhirtenbriefes Anwendung fand, hatte ihr Vorbild in den Pastoralschreiben der katholischen US-Bischöfe zu Fragen des Friedens und der Wirtschaft. Zum ersten Mal konnten nun auch in Österreich verschiedene gesellschaftliche Gruppen Diskussionsbeiträge und Stellungnahmen einbringen, die im Sozialhirtenbrief Berücksichtigung finden sollten.

Dieser Diskussionsprozess kann als intensives Hinhören auf die unterschiedlichen Anliegen und Lebenswirklichkeiten der Kirchenbasis, als ein fruchtbarer Dialog zwischen den Betroffenen, den Experten und den Amtsträgern in der katholischen Kirche gewertet werden. Durch diesen Vorgang ist erstmal ein Bewusstsein dafür entstanden, wie der Weg aussehen sollte, wenn sich die Kirche zu wichtigen Fragen ein Urteil oder Gewissen bildet und öffentlich Stellung bezieht. Das ist ein sehr wichtiges Ergebnis des Sozialhirtenbriefes mit Modellcharakter nicht nur für die Kirche.

Bereits im apostolischen Schreiben "Octogesima adveniens" (1971) von Paul VI. ist diese Vorgehensweise grundgelegt. Demnach ist es Sache der einzelnen christlichen Gemeinschaften, die Verhältnisse ihres jeweiligen Landes objektiv abzuklären und Schritt und Maßnahmen (immer jedoch in Verbundenheit mit den zuständigen Bischöfen, aber auch im Gespräch mit allen Menschen guten Willens) zu setzen, die eine gesellschaftliche Veränderung im Sinne von mehr Gerechtigkeit herbeiführen.

Die Bedeutung dieser Feststellung für die Soziallehre lässt sich vor allem in zwei Punkten benennen: Es ist eine deutliche Akzentverschiebung von einer Soziallehre als einer bloßen Lehre von Prinzipien und Grundsätzen hin zu einer praxisorientierten Soziallehre zu erkennen. Die Gemeinden und Gruppen sind nicht mehr nur Anwender von einer amtlichen Soziallehre, sondern auch Mitgestalter. Sie werden zum Impulszentrum für Praxisreflexion und für das daraus hervorgehende pastorale Planen und Handeln. Die Erfahrungen und die Praxis solcher Gemeinden werden in die amtlichen Dokumente aufgenommen und helfen so, die Soziallehre weiterzuentwickeln.

"Sozialwort" geplant Die zweite Bedeutung dieser Feststellung liegt in der Betonung der regionalen Sozialverkündigung, also der Bedeutung der Ortskirchen für die Sozialverkündigung. Neben dem Projekt Sozialhirtenbrief 1990 in Österreich und dem amerikanischen Wirtschaftshirtenbrief gelten insbesondere die lateinamerikanischen Schluss-dokumente von Medellin (1968) und Puebla (1979) sowie das Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland (1997) als gelungene Beispiele für die regionale Sozialverkündigung.

Mit dem Sozialwort in Deutschland wurde erstmals auch bewusst eine ökumenische Vorgehensweise gewählt (Katholische und Evangelische Kirche waren gemeinsam daran beteiligt). In der Sozialenzyklika "Centesimus annus" (1991) wird die Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass den Religionen sowohl heute als auch morgen eine herausragende Rolle für die Bewahrung des Friedens und für den Aufbau einer menschenwürdigen Gesellschaft zufallen wird. Die ökumenische Dimension in der katholischen Soziallehre entfaltete sich und reifte - genauso wie in der Gesamtkirche - im Laufe der Zeit. Sie gewann insbesondere seit den gesellschaftlichen Umbrüchen 1989 an Bedeutung.

In Österreich ist für den 17. September 2000 der Start des "Sozialwortes - eine Initiative der christlichen Kirchen in Österreich" vorgesehen. Erstmals beteiligen sich an einem solchen Projekt vierzehn verschiedene Kirchen - sowohl östlicher wie westlicher Tradition. Die gelebte soziale Praxis der Kirchen wird in der ersten Phase des Projekts breit erhoben. Soziale Initiativen vom Sozialausschuss einer Pfarre über die Diakonie bis hin zum Ordensspital und zur Flüchtlingsberatungsstelle sollen sich beteiligen. Die Ergebnisse werden in einem Sozialbericht zusammengeführt und bilden somit die Grundlage für das Sozialwort.

Der Autor ist Leiter der Katholischen Sozialakademie Österreichs.

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