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Die motorisierten Abc-Schützen

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ES KLINGT VIELLEICHT ein wenig unwahrscheinlich, wenn man folgenden Satz liest: Im „automobilfreudigsten Land Europas“ — in dem nahezu jeder vierte Einwohner ein Motorfahrzeug besitzt — starb zum Weihnachtsfest 1960 nur ein einziger Mensch den Verkehrstod. Dies, obwohl allein rund 1,5 Millionen Personenkraftwagen in Schweden registriert sind, die Ver- kehrsbedingungen um die Weihnachtszeit unendlich viel schwieriger sind als in den mitteleuropäischen Ländern und es zudem eine weitverbreitete Sitte in Schweden ist, gerade zu Weihnächten die Großstädte zu verlassen, um aufs Land zu fahren. Per 10.000 Automobile muß man in Österreich mit 37 ‘ Verkehrstoten rechnen, in Westdeutschland mit 27 und in Schweden mit — 8! Bei einer Gesamtbevölkerung von 7,5 Millionen — das Land Schweden ist flächenmäßig etwa doppelt so groß wie Westdeutschland, in den nördlichen Gebieten wohnt jedoch nur ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung — betrug die Gesamtanzahl der Verkehrstoten im Jahre 1960 nur 932 Personen. Noch eine verblüffende Ziffer: Während der Weihnachtszeit, die in Schweden fast allgemein vom 22. Dezember bis zum darauffolgenden 9. Jänner gerechnet wird, starben im Jahr 195960 54 Personen den Verkehrstod. Obwohl im darauffolgenden Jahr die Anzahl der Motorfahrzeuge mit etwa 115.000 zugenommen hatte, starben in der gleichen Zeit des folgenden Jahres nur 14 Menschen auf schwedischen Straßen. Und während des ganzen Jahres 1960 war die Anzahl der Unfalltoten im Straßenverkehr trotz des enormen Anwachsens des Verkehrs und der Kraftwagen nur um drei höher gegenüber dem Vorjahr.

DIESE ZAHLEN wirken verblüffend, es handelt sich jedoch keineswegs um eine „Hexerei" oder Zahlenspiele. Dahinter steckt eine große Aufklärungsund Erziehungsarbeit, die eine zentrale Organisation ‘in Schweden leitet. In einer unlängst in der Schweiz veranstalteten internationalen Konferenz über Verkehrssicherheitsfragen und Probleme der Unfallverhütung konnte man denn auch ruhig feststellen, daß das Land Schweden heute als-Vorbild für ganz Europa gelten kann. Wenn man in Stockholm nach den Hintergründen forscht, wird man an ein Institut verwiesen, dessen drei magische Buchstaben NTF jedem Bürger, vom König bis zum Abc-Schützen, wohl- bekannt sind. NTF bedeutet Nationale Vereinigung zur Förderung der Verkehrssicherheit. Der Werbeslogan dieser reichsumfassenden Organisation, die eine kaum begrenzbare Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit betreibt, heißt: Verantwortungsbewußtsein, Rücksichtnahme, Urteilsvermögen. Es dürfte kein anderes Land in der Welt geben, das eine derart effektiv arbeitende gleichwertige Organisation hat, und nur mit Mühe kann man andeuten, auf welchen Gebieten der NTF überall arbeitet. NTF ist gleichsam eine Dachorganisation, die sowohl im Namen des Königs und der Regierung, als auch im Namen des kleinsten Sportvereins hoch oben jenseits des Polzirkels die „nationale Aufgabe“ zu lösen hat, die Verkehrsprobleme in aller ihrer Vielseitigkeit zu lösen. Wie ernst man diese Aufgabe in Schweden nimmt, geht allein schon aus der Tatsache hervor, daß man das Budget des NTF in wenigen Jahren vervielfacht hat. Der Staat bezahlt heute 800.000 Kr. für den NTF, weitere 750.000 Kr. werden durch die Industrie und Vereine beigetragen, und eine gleichhohe Summe stammt aus eigener Verkaufstätigkeit.

DREI AUFGABEN hat die Vereinigung in den letzten Jahren besonders gut gelöst: zunächst einmal ist es ihr gelungen, die gesamte Industrie des Landes, die in irgendeiner Form mit Auto, Verkehr und Straßen zu tun hat, „verkehrsbewußt“ zu machen. Nicht nur, daß die Automobilhersteller die Arbeit des NTF unterstützen und nunmehr Sicherheitsgurte — 50 Prozent aller Autos in Schweden haben diese „lebenswichtige“ Ausrüstung — in die Serienwagen einbauen, sie selbst lassen in die umfangreiche und aufwendige Reklame dieser Branche stets den Faktor „Sicherheit im Verkehr“ mit einfließen. Es kann etwa geschehen, daß eine Autoreifenfabrik die Titelseite einer großen Tageszeitung kauft und nicht für ihr Produkt direkt, sondern für die Verkehrssicherheit wirbt.

Die zweite gelöste Aufgabe besteht darin; daß das Fach „Verkehr“ nunmehr in allen Schulklassen obligatorisch ist Man beginnt mit einer Verkehrsbibel für die Abc-Schützen und endet mit einem Examen bei den Abgangsklassen. Die dritte Aufgabe schließlich ist es gewesen, das Thema Verkehrssicherheit und Unfallverhütung auf moderne und geschmackvolle Art zu einem ständig aktuellen Thema zu machen Mit allen modernen Massenbeeinflussungsmitteln wird buchstäblich jeder Bürger dieses Landes immer wieder daran erinnert, daß er eine große Verantwortung auf sich nimmt, wenn er sich hinaus in den Straßenverkehr begibt. Zeitungen schreiben ständig über dieses Thema. Plakate — wahre Muster an geschmackvoller Gestaltung und oft von bekannten Künstlern — erinnern daran, das Radio sendet fast jeden Abend vor den Abendnachrichten eine freundliche aber bestimmte Mahnung an alle, und gen, Vereinen, Versicherungsunternehmen, Straßenbaufirmen, Polizei und schließlich spielen auch Television und Kino hier eine große Rolle. NTF ist deshalb zu einer wahren Volksbewegung geworden, deren Werbesprüche oftmals buchstäblich Volksmund werden. NTF hat einen enormen Einfluß in Kindergarten, Schulen, Fahrschulen, Gewerkschaften, Kommunalregierun Militär. Wenn das Problem Verkehr e in einem modernen Industrieland des20. Jahrhunderts überhaupt zu lösen 5 ist, in Schweden ist man der Lösung , bis heute jedenfalls am nächsten ge- kommen.

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