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Knabenseminar als Jungenstadt

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Daß der alte Spruch „Wir lernen nicht' für die Schule, sondern für das Leben“ noch immer .wahr ist, werden wohl — so glaube ich wenigstens — alle bestätigen, die die Schule hinter sich haben und bereits im Leben stehen.

Genau so wahr ist es aber, daß die Schule nicht nur wissenschaftliche Bildung, sondern auch Erziehung vermitteln soll. Ganz besonders gilt das' für Schulen, ' die ihre Kandidaten für einen Beruf ausbilden, der, eine bestimmte Lebenseinstellung verlangst, wie z. B. der Priesterberuf. Darum schreibt auch das katholische Kirchenrecht vor, daß die Bischöfe dafür zu sorgen haben, daß in den Diözesen zwei Seminare errichtet werden, nämlich ein Seminar für-die humanistische Bildung der Priesterstudenten und eines für die Kandidaten der philosophischen und theologischen Studien.

In Italien wird diese Verordnung, sehn rigoros interpretiert und noch immer extrem-* traditionell durchgeführt. So kann einem dort zum Beispiel eine Gruppe von zehnjährigen Buben m Franziskanerkutte begegnen: Zögfinge eines.“ Franziskanerseminars! Oder Kandidaten eines bischöflichen Kiiabenseminars, die int Talar mit violetten Knöpfen und violetter, Schärpe, wie kleine Prälaten durch die, Stadt marschieren. Auch kommt es dort noch häufig vor, daß die Priesterstudenten während der ganzen Altsbildungszeit für- das. Priesteramt überhaupt nicht auf -Urlaub oder' auf Besuch nach Hause dürfen, sondern immer im Internat bleiben, wo sie ängstlich behütet werden. Es bleibt aber offen, ob eine solche Erziehung die Kandidaten für die große Lebensaufgabe, die “sie später einmal inmitten der Welt zu erfüllen haben, fähig machen kann.

Auch in Holland wird strikt an den Verordnungen von Rom festgehalten und hat das Wort der Bischöfe noch die absolute Autorität, die ihnen kraft ihres Amtes zukommt. Man ist aber auch aufgeschlossen und fortschrittlich genug, um neue Wege und Methoden zu finden,die der heutigen Zeit entsprechen. So wird momentan auf dem Gebiet der Priesterausbildung ein Experiment durchgeführt, das vielleicht ein LInikum in der ganzen Welt ist. Seit zwei Jahren wird nämlich ein Knabenseminar nach dem Muster der bekannten amerikanischen Jungenstadt geführt. Autorität und Verantwortung liegen praktisch ganz in Händen der Zöglinge selbst.

Initiator dieser Methode ist ein 3 5jähriger Priester. Er gründete seine Reform auf dem Fundament der Familie. Seine Theorie ist: „Das einzige Internat, das Gott eingesetzt hat, ist die Familie. Alles andere ist Ersatz!“ So wird also auch das Leben in einem Seminar soviel als möglich dem normalen Familienleben angeglichen werden müssen. Jedes Mitglied wird darin seinen eigenen bestimmten Platz haben müssen mit eigener Verantwortung, eigenen Rechten und Pflichten. Ueberdies muß das Seminar für alle guten Einflüsse von außen offen stehen. Also keine von der Welt abgeschlossene Erziehung, sondern ein System, das genau wie die gesunde, moderne Familie die Welt nicht ausschließt. ,

Dieses System stützt sich auf zwei Grundsätze: Vertrauen von seiten der Seminarleitung und gegenseitige Dienstbereitschaff von Seiten der Studenten. So entstand eine Methode, nach der die Priesterstudenten sich selbst regieren. Ihr Vorstandsausschuß ist zusammengesetzt aus einem Bürgermeister mit seinem Sekretär und 'drei Stadträten. Diese bestimmen die Tagesordnung,.ohne daß sich ein Direktor oder Präfekt darum kümmert. Es gibt auch andere Organisationen, von. denen jede ein eigenes Ressort zu betreuen hat. Sie treffen die notwendigen Vorbereitungen und sorgen dafür, daß alles ordnungsgemäß verläuft. So gibt es zum Beispiel eine Organisation für Kunst und Kultur, die dafür. sorgt, dtfs regelmäßig gute Theaterstücke und Konze/te besucht werden. Die Organisation für Wissenschaft und, Technik sorgt für die Einladung von sachverständigen Rednern aus, den verschiedensten : Wissensgebieten. Die Propa-gafidaorgaliisation gibt, eine eigene Zeitschrift heraus; die sowohl nach Inhalt als auch technischer Ausführung auf hervorragender Höhe 'steht. Die Abteilung „Städtischer Dienst“ sorgt für Ordnung und Sauberkeit innerhalb, und außerhalb der Gebäude. Die „Hobby-Clubs“ verrichten die notwendigen kleinen Arbeiten.

Das Ziel dieser Methode ist, den Priesterstudenten von Jugend an zu helfen, sich zu einer selbständigen Persönlichkeit heranzubilden und alle Fähigkeiten des Geistes und des Körpers'zu entfalten. Dazu dienen auch die sogenannten „bürgerlichen Rangunterschiede“. In dem Maße nämlich, als der Kandidat Fortschritte in der Persönlichkeitsbildung macht, steigt er im Rang. So gibt es Aspirant-Bürger und Bürger ersten, zweiten und dritten Grades. Das Erreichen dieser Grade ist nicht vom Alter oder von intellektuellen Leistungen, sondern einzig und allein von der Persönlichkeitsbildung abhängig.

In den zwei Jahren dieser Jungenstadtpraxis im Seminar konnten schön sehr schöne Erfolge festgestellt werden. Das wichtigste ist wohl,daß die Studenten von 18 und 19 Jahren durch diese Methode eine solche Persönlichkeitsbildung erreichen, daß sie reif sind, eine Lebensentscheidung, wie die Wahl des Priester-berufes, zu treffen. Auch ist es bemerkenswert, daß in diesen zwei Jahren bedeutend weniger Kandidaten als sonst aus dem Priesterseminar ausgetreten sind, ja, daß dank des neuen Systems Priesterberufe, die aller Wahrscheinlichkeit nach bei der alten Erziehungsmethode verlorengegangen wären, nun erhalten blieben.

Es ist erfreulich, daß man den Mut hat, ein solches Experiment zu wagen und einen neuen Weg in der kanonischen Seminarerziehung zu gehen. Auch dadurch wird nämlich wieder bewahrheitet, daß die Kirche, als mystischer Leib Christi, kein toter Körper, sondern ein lebendiger Organismus ist.

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