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Österreich nach der Geschichte

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SO JAHRE UNSERES LEBENS. Von Hellmu A n d i o 8. Verlag Fritz Molden, Wien-Mün- chen-Zürlch. 740 Seiten, 520 Bilder. S 445.—.

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SO JAHRE UNSERES LEBENS. Von Hellmu A n d i o 8. Verlag Fritz Molden, Wien-Mün- chen-Zürlch. 740 Seiten, 520 Bilder. S 445.—.

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Der erfahrene Journalist Andics legt ein umfangreiches Werk anläßlich des Republikjubiläums vor und versucht damit seinen Zeitgenossen Österreichs Schicksal seit 1918 transparent zu machen. Es ist nicht der erste Versuch des Autors, der sich auf diesem Gebiet nicht nur schriftlich, sondern auch in Film und Fernsehen betätigt hat.

Die eingehende Auseinandersetzung merkt man dem Werk auch an. Vieles ist bereits in seinem Buch „Der Staat, den keiner wollte“ zu finden, doch hat die Präzision zugenommen. Nicht zuletzt wurden neuere Werke bereits berücksichtigt und erarbeitet beziehungsweise die Stellungnahme noch lebender Akteure eingeholt. Imponierend ist das Buch auf jeden Fall. Hinsichtlich seines Bildmaterials; mancher historischer Aufnahme begegnen wir hier wieder, manche hat wohl noch nie einen großen Kreis erreicht. Wem die Darstellung zu journalistisch ist, der kann sich an einer Zeittafel sowie an Quellenhinweisen und Anmerkungen im Anhang die nötige wissenschaftliche Unterstützung holen. Wissenschaftlich will aber das Buch eigentlich nicht sein. Andics verfolgt mit seinen Montagen nebensächlicher Fakten zu historisch entscheidenden Stunden den Zweck, lesbar und attraktiv zu sein, Mag es aufs erste scheinen, als wäre das Mobiliar, im dem diese oder jene Persönlichkeit gelebt hat, uninteressant, läßt es doch Schlüsse auf Persönlichkeiten und ihren Stil zu. Mag manches durch die Phantasie ergänzt sein, es bringt doch ein Bild der Geschlossenheit und der Situationsdramatik. Das ist schließlich für ein Buch, das gelesen werden soll, legitim. Ein Punkt, der den Autor nicht betrifft, behindert die Lesbarkeit: der sicher für die Allgemeinheit hohe Preis. Das Werk wäre besonders für die Jugend interessant und informativ, wird aber kaum in einem Ausmaß zur Verfügung stehen, das weite Verbreitung erwarten läßt.

Der Rezensent ertaubt sich anzti- merken, daß seih politisches Bewußtsein nur ln die letzten zehn dieser fünfzig Jahre der Republik hineinreicht. Die Lektüre des Werkes gibt zur Überlegung Anlaß, daß sich diese kaum mit der Turbulenz und der politischen Bedeutung der anderen vier Dezennien messen können: Ein Glück, wird man auf das erste feststellen, ein Gfund zum Nachdenken, wenn man länger überlegt.

Sicher ist es erfreulich, daß Österreich sich politisch konsolidiert hat und die Fragestellung mancher Existenzberechtigung nicht mehr auf der Tagesordnung ist. Man kann aber nicht behaupten, daß mit dieser Selbstfindung unseres Staates alle Fragen beantwortet sind. Die um uns stattfindende Welt politischer Konfrontation, die gesellschaftliche Entwicklung und ihre ohnehin abgeschwächten Konsequenzen für unser Land stellen eine Herausforderung dar, der wir uns offensichtlich in den letzten zehn Jahren nicht gestellt haben. Nicht der Mangel an Bürgerkriegen sei beklagt, sondern das Fehlen echten Ringens um die Gestaltung Österreichs. In diesem Zusammenhang fällt auch auf, daß die Zahl der profilierten Politiker höher, ihre Vielseitigkeit und ihre Aussage von anderem Niveau getragen war, als es uns das heute scheinen mag. Vielleicht steht der Mangel an Herausforderung in Korrelation zu den Begabungen. Damals war allerdings die Situation drängend — niemand konnte daran vorübergehen. Heute gelingt es, verschiedene Probleme zu übersehen und sich auf die Weltgeltung der Wiener Oper und der österreichischen Skischule als Alibi zu berufen.

Sind -wir mitten im Ab-gesang einer „kleinen Welt, in der die große ihre Probe hält?“ Sind die nächsten 50 Jahre, also meine, uninteressant und bereits nach der Geschichte? Die Fragestellungen ließen sich beliebig fortsetzen. Die Antworten? Schwer zu sagen, vor allem wenn man von Jugend auf gelernt hat, Sicherheit und Ruhe als höchstes politisches Ziel anzustreben. Sind wirklich alle -gestaltenden Ideen im ersten halben Jahrhundert verbraucht worden? Genügt der Ausbau der Inriustriegesell- schaft als Alibi für die Demokratie?

Vielleicht stellt uns die Jugend demnächst diese Fragen, anderswo tut sie es schon. Wenn aber nun allerorten das Zeitalter der jungen Generation kommt, soll man nicht nach dem Geburtsjahr fragen, sondern nach Jugend und Kraft der Ideen, nach dem Mut zu neuen Grenzen. Hier aber können uns die Männer der bisherigen „50 Jahre unseres Lebens“ in der Republik Österreich viel mit auf den Weg geben — nicht in der Praxis, wohl aber in der Konzeption.

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