6738665-1966_32_06.jpg
Digital In Arbeit

Stichwort Bildungseefälle

Werbung
Werbung
Werbung

Aber nicht allein in geographischer, sondern auch in soziologischer Hinsicht zeichnet sich ein starkes Bildungsgefälle ab. Gemäß Angaben des Statistischen Amtes stammen nur 6 Prozent der Hochschulabsolventen aus Arbeiterfamilien. Die Arbeiterschicht, die etwa 50 Prozent der schweizerischen Gesamtbevölkerung ausmacht, stellt bloß rund ein Zwanzigstel des akademischen Nachwuchses.

Aufschlußreich sind die Resultate einer in Basel durchgeführten Schüleruntersuchung. Es stellte sich heraus, daß die in den Primarschulen erworbenen Berechtigungen zum prüfungsfreien Übertritt in das Gymnasium von den Söhnen der „Oberschicht“ (Direktoren, Akademiker in leitenden Positionen) zu 97 Prozent, von den Söhnen der „Mittelschicht“ (technische und kaufmännische Angestellte, Lehrer) au

85 Prozent ausgenützt wurden, während die Söhne der Arbeiter und kleinen Angestellten ihre Berechtigungen nur zu 41 Prozent ausnützten, das heißt zu 59 Prozent nicht ausnützten. Diese Ergebnisse sind umso bemeikenswerter, als sie aus einem Stadtkanton stammen, dessen höhere Schulen für die gesamte Bevölkerung leicht erreichbar sind, der keine Schulgelder erhebt, über ein ausgebautes Stipendienwesen verfügt und eine Arbeiterschaft aufweist, die zu den bestbezahlten der Schweiz gehört.

Neben der Arbeitenbevölkerung sind speziell die Frauen im Rückstand. Der Anteil der weiblichen Studierenden erreichte im Jahre 1964 mit 19 Prozent den bisher höchsten Stand. Zehn Jahre früher waren es 14 Prozent. Damit figuriert die Schweiz, die als erstes Land den Frauen die Universitäten zu syste matischem Studium öffnete, auf einem der hintersten Ränge unter den europäischen Ländern.

Gesucht wird der Fachmann

Diese Fakten sind vor dem Hintergrund eines alarmierenden Mangels an Fachleuten in fast allen Berufen zu würdigen. Nach neuen Schätzungen dürften bis zum Jahre 1970 in der Schweiz 300 bis 400 Ärzte, rund 750 Zahnärzte, mehr als 600 Mittelschullehrer, 450 Geistliche fehlen. Die Zahl der Techniker, der Juristen, der Hochschuldozenten müßte erheblich erhöht werden. Was sich da abzeichnet, trifft das ganze helvetische Gesellschafts- und Wirtschaftssystem. Die Schweiz ist längst nicht mehr das traute Agrarland, das in Touristenprospekten idyllisches Glück ausstrahlt. Nur noch etwa 10 Prozent der Arbeitnehmer sind in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt. Die größte Zunahme weisen die vielen Zweige der Dienstleistungsberufe auf. Die Entwicklung wird zweifellos in dieser Richtung weitergehen. Durch Automation und moderne Rationalisierungsmethoden werden Arbeitskräfte frei, die heute noch zu fast 50 Prozent in Industrie und Gewerbe beschäftigt sind. Die geistigen Anforderungen in den Berufen werden wachsen, der Bedarf an qualifizierten Arbeite- und Führungskräften wird steigen. Es stellt sich die Frage, Ob das schweizerische Bildungswesen solchen Anforderungen genügen kann, ob genügend geistiges Potential vorhanden ist, um den Bedarf zu decken.

Eine Intelligenzuntersuchung, die das Psychologische Institut der Universität Bern in allen Regionen der deutschen Schweiz durchführte, kam zum Ergebnis, daß sich die Begabten vorwiegend in den Städten und in bevorzugten ländlichen Gebieten finden, und daß von ihnen diejenigen aus niedrigeren Schichten ungenügend ausgenützt sind. Faßt man die möglichen Begabungen auf längere Zeit hinaus ins Auge, so darf man annehmen — immer nach der erwähnten Untersuchung —, daß in den sehr abgelegenen Berggebieten und in den niederen sozialen Schichten noch beträchtliche Reserven vorhanden sind. Diese Resultate decken sich weitgehend mit ähnlichen Erhebungen in anderen Ländern.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung