Zum 200. Geburtstag: neue Sicht auf den Autor - und warum seine Märchenwelt noch immer fasziniert.
Über Hans Christian Andersen schreiben heißt auch, sich der eigenen Kindheit erinnern, der frühen Ängste und der unverstandenen Traurigkeit. Und jener Märchenwelt, wo Kindheitsangst ihr Heimatrecht hat. Andersen hat sie so viel besser verstanden als jene beruhigte Bürgerlichkeit, die sie gerne in Geborgenheit umlügen möchte. Er wusste: "Die tiefe Trauer einer Kinderseele ist so groß wie die größte, die der Erwachsene kennt; das Kind kennt in seinem Schmerz keine Hoffnung, die Vernunft reicht dem Kind nicht ihre stützende Hand, es hat im Augenblick nichts als seine Betrübnis, an die es sich klammert."
Andersen war der erste, der nicht über Kinder schrieb, sondern ihnen literarisch eine Stimme gab. So galt denn auch die lebendige Diktion von Kindern in seinen Märchen bis hinein in ihre kreativen Lautmalereien bei zeitgenössischen Kritikern als unkultiviert und primitiv. Dass er das Märchen aus der Gefangenschaft einer moralischen Botschaft befreite, trug ihm damals Urteile wie "schädlich" und "unverantwortlich" ein.
Dass Kinder Märchen brauchen, ist ja dank Bruno Bettelheim mittlerweile Gemeingut der Gebildeten, aber muss es denn ausgerechnet Andersen sein? "Kinder brauchen Mythologie und gute Märchen!", wusste auch schon Sören Kierkegaard; aber es kam ihm darauf an, dass es eben die richtigen wären - nicht die von Andersen. Schon in seinem ersten Buch von 1838, "Aus eines noch Lebenden Papieren", griff der Philosoph seinen Kopenhagener Zeitgenossen an: Die Märchen Andersens galten ihm als "Geflenne", schienen ihm zu naiv, und ihr Autor war ihm zu wenig männlich, sondern "eher mit jenen Blumen zu vergleichen, bei denen das Männliche und das Weibliche auf einem Stengel beieinandersitzen".
Märchen ohne Moral
Hier hat Kierkegaard, wie die neue und bislang umfangreichste Biografie Hans Christian Andersens durch seinen Namensvetter Jens Andersen zeigt, mit gutem männlichen Jägerinstinkt ins Schwarze getroffen. Schwärmerisch hat sich Andersen - immer aus der sicheren Distanz der unmöglichen Realisierung - in einige Frauen (am tiefsten in die schwedische Sängerin Jenny Lind), vor allem aber in Männer verliebt. Ihn als bisexuell zu bezeichnen, würde die Leiden seiner Erotik verkleinern; eher trifft: doppelt asexuell. Es ist nahezu sicher, dass er in seinem Leben keinen einzigen Geschlechtsakt vollzogen, sondern immer nur Kreuzchen ins Tagebuch gemalt hat - der Eintrag für seine Masturbationen. In Neapel wollte ihn ein Reisegefährte zum Bordellbesuch überreden. Andersen notierte: "Ich vertraute mich ihm vollkommen an, sagte, ich würde unter Brunst leiden, und er hielt es für notwendig, daß man seine Säfte so los wird. Ich war nach diesem Gespräch verstimmt. Bekam zum Abend auf mein Zimmer nur kaltes Wasser, wahrscheinlich gut für das heiße Blut; ging zeitig zu Bett." In Paris war er mehrmals im Bordell - um einem Mädchen Geld zu geben und mit ihm zu sprechen. Andersen, der in einem Brief an einen Freund "meine Weichheit, meine halbe Weiblichkeit" ansprach, war für andere Männer ein willkommenes Spottobjekt. Als Pubertierendem, der gerne las und Theaterkostüme für Puppen herstellte, zogen sie ihm die Hose aus, um nachzusehen, ob er ein richtiger Mann sei.
Fragile Geschlechtsidentität
Nicht nur das Geschlecht, sein ganzer Körper war ihm lebenslang ein Problem: Enorme Füße, überlang schlackernde Arme, und dazu noch Schweinsaugen und eine lange Adlernase - auch im Alter hat kein Wohlstandsspeck diese Erscheinung abgemildert. Nur wenn er sprach und vor allem, wenn er las, konnte er seine Umgebung in Bann ziehen. Also tat es der Egozentriker so intensiv, dass er seine Umgebung auch damit nervte. Und hinter der Eitelkeit, mit der er über seine Fotos wachte und überlegte, ob er eher Schiller oder Goethe ähnlich sähe, verbarg sich ein Mann, der sich noch mit 60 in eine Seitengasse verdrückte, wenn hinter ihm gelacht wurde; und der lebenslang um Anerkennung und Nähe bettelte.
Begonnen hat er damit als Vierzehnjähriger in Kopenhagen, nachdem er dem heimatlichen Städtchen Odensee auf der Insel Fünen für immer Lebewohl gesagt hatte. Da sein Geld nicht einmal für die Rückfahrt reichte, war er gezwungen, auf gut Glück an die Tür reicher und einflussreicher Bürger zu klopfen: immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, Gedichte vorzutragen oder als Schauspieler aufzutreten. Beim Theater hatte er keine Chance - schon seines Körpers wegen. Aber dass "Naturkinder" damals geradezu eine Modeerscheinung waren (die in Kaspar Hauser gipfeln sollte), kam ihm zugute. Der angesehene Staatssekretär Jonas Collin organisierte seine Bildung. Zunächst war er an einer Lateinschule dem tyrannischen Rektor Meisling ausgeliefert, danach unterstützte ihn Edvard, der Sohn von Jonas Collin, in allem, was dem Bürgertum wichtig war: Grammatik, Umgangsformen und Geldangelegenheiten. Daraus wurde eine schwierige Lebensfreundschaft, in der Andersen für Jahrzehnte vergeblich um das Du-Wort bettelte.
Absetzen von seiner Ersatzfamilie Collin konnte sich Andersen nicht, denn seine wirkliche Herkunft - den armen Schuhmacher, der starb, als Andersen elf Jahre alt war, als Vater, die dem Alkohol verfallene Waschfrau als Mutter und die uneheliche Halbschwester - musste der Schriftsteller verbergen oder poetisch schönreden. Schon sein Geburtshaus ist Fiktion - die Eltern hatten bei seiner Geburt kein eigenes Obdach -, und Andersen-Biograf Andersen vermutet schlüssig, dass die tristen Kindheiten seiner Märchenfiguren realistischer gezeichnet sind als die bescheidene Idylle im autobiografischen "Märchen meines Lebens ohne Dichtung".
Reisen - auch nach Wien
Die Befreiung von der eigenen Herkunft gelang Andersen am besten als manisch Reisender. Der Balkan oder Schottland, Nordafrika oder der Orient, nichts war ihm zu weit. Solange er nur sein Seil dabei hatte, um sich bei einem Hotelbrand abzuseilen, und den Zettel "Ich bin scheintot" aufs Nachtkästchen legen konnte - aus Angst, lebendig begraben zu werden. Auf seinen etwa 30 Reisen zwischen 1831 und 1873 besuchte er sechsmal Wien und machte die Stadt zum Schauplatz seines Romans "Nur ein Spielmann". In einer Ausstellung des Wien Museums Karlsplatz, die sein Leben prägnant veranschaulicht, ist auch zu entdecken, wem Andersen in Wien begegnete und wie intensiv er die Stadtentwicklung und das Leben der Menschen kommentierte.
Neugierig und mit durchaus nicht zeittypischer Toleranz hat Andersen auf seinen Reisen fremde Länder und Lebensgewohnheiten entdeckt. Eingeflossen ist das nicht nur in seine Märchen, sondern in seine Romane (der 200. Geburtstag hat es ermöglicht, dass alle auf Deutsch vorliegen), Tagebücher und Stücke. Oft hat Andersen darunter gelitten, dass er vor allem als Märchendichter wahrgenommen wurde. Auch wenn ihm die Natur lieber war als das "hegeln" der Intellektuellen, machte er sich über sein 19. Jahrhundert zwischen Technikeuphorie und Romantik (die er beide auch selbst verkörperte) viele Gedanken. Religiös scheit er der magischen Welt seiner analphabetischen Mutter näher gestanden zu haben als dem autodidaktisch lesenden freidenkerischen Vater. In der Biographie, die ihn authentischer zur Sprache bringt als Stig Dalagers fragwürdiges Verfahren, ihn zur Romanfigur zu machen, ist auch dazu viel nachzulesen.
Als Andersen 70 wurde, konnte er seinen internationalen Ruhm genießen und beruhigt sein Geld zählen - nach heutigen Begriffen war er Millionär. Als er bald darauf starb, waren seine Gönner am Sarg vereint: der dänische König und das gute Bürgertum, allen voran die Collins; und viele Berühmtheiten aus dem Ausland. Dass Andersens abgründige Märchenwelt zu seinem 200. Geburtstag nicht tot ist, liegt an den Kindern, die ihn lasen und lesen - darunter auch Thomas Mann (der seine Faszination durch junge Männer allzu gut verstand) und Nabokov, Oscar Wilde, James Joyce oder Arno Schmidt. Noch in Kafkas "Schloß" oder Stéphane Mallarmés Gedichten leuchten Spuren aus Andersen Märchenwelt.
LITERATUR
Hans Christian Andersen
Eine Biographie von Jens Andersen
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2005, 805 Seiten mit zahlreichen teilw. farbigen Abbildungen, geb., e 28,80
Reise in Blau
Ein Roman über Hans Christian Andersen Von Stig Dalager.
Aus dem Dänischen von Heinz Kulas.
Arche Verlag, Zürich-Hamburg 2005
320 Seiten, geb., e 20,50
"Das Leben ist das schönste
Märchen, denn darin kommen wir selber vor"
Aus Andersens Lebensgeschichte, von ihm selbst erzählt
Von Sabine Friedrichson
und Hans Christian Andersen
Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim und
Basel 2005, 48 Seiten mit zahlr. farbigen Illustrationen, geb., e 20,50
Das hässliche Entlein
und andere Märchen
Von Hans Christian Andersen
Ausgewählt von Ulrich Sonnenberg.
Illustriert von Kat Menschik
NP Buchverlag, St. Pölten u. a. 2005
119 Seiten mit Farbillustrationen, geb.,
e 16,90
Nur ein Spielmann
Roman
Von Hans Christian Andersen
Aus dem Dänischen von Berndt Kretschmer. Mit einem Nachwort von Johan de Mylius. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005, 367 Seiten, geb., e 20,50
AUSSTELLUNG
Andersen in Wien
Wien Museum Karlsplatz
www.wienmuseum.at
Bis 30. April
Di-So u. Feiertag 9-18 Uhr,
Mi bis 20 Uhr
Eintritt frei
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!