6666921-1960_39_08.jpg
Digital In Arbeit

Unabhängigkeit auf Sand gebaut

Werbung
Werbung
Werbung

DREI BLECHTONNEN STEHEN IN EINER REIHE quer über die Piste. Das heißt „Durchfahrt verboten“ in der Sprache der Sahara-Pistenpolizei. Man muß das Verbot nicht befolgen, aber dann bleibt man einige hundert Meter weiter im aufgeweichten Sand stecken und die Fliegen und die Moskitos kleben auf der Haut wie eine surrende, kribbelnde, stechende Decke. Vor den Blechtonnen sammeln sich die Fernlaster, schwere Wagen mit fünfzehn bis vierzig Tonnen Last. Manchmal hocken Menschen darauf — blauhäutige Mauren, pechschwarze Peuils, die in Nakshot im Gefängnis waren oder im Krankenhaus oder bloß einkaufen und die nun zu ihren Stämmen zurückfahren. Es sind einige Frauen darunter; dicht verschleiert passen sie sich dem Ton auf der Piste an und nehmen mit den anderen Reisenden und mit den Chauffeuren das Leben unter den Fernlastern auf.

48 STUNDEN LEBEN wir schon unter den Lastern am langsam ölig werdenden Sand, wo tagsüber die Sonne nicht hinkommt und nächtens der Geruch des Gummis und des Öls die Schlangen fernhält. Hinter den Blechtonnen ist die vom Regen aufgeweichte, zusammengesunkene, zum Sumpf gewordene Piste. Das ist die einzige Straße nach Nakshot, der Hauptstadt der islamitischen Republik Mauretanien, die am 28. November die volle Unabhängigkeit aus den Händen der französischen Protektoratsmacht erhalten wird. \

Hinter Nakshot geht die Piste weiter. Noch schlechter, noch gefährlicher — nach Artar, dann nach Fort Gouraud, knapp am spanischen und am unabhängigen Marokko vorbei nach der algerischen Sahara. Wo die Piste kaum merkbar in die Savanne übergeht, liegen ganz im Sinn der klassischen Vorstellung von Saharapisten gebleichte Gerippe von Kamelen, Rindern, Eseln und Hyänen. Aber dazwischen sind alte Autoreifen und rostende Wracks von Lastern und Jeeps, die unterwegs havarierten. — „Route Mauretanie“ heißt diese Piste; die schlechteste und wildeste zwischen dem Norden Afrikas und Schwarzafrika. Sie wird die Lebensader der jun-, gen Republik sein.

NAKSHOT WIRD EINE STADT IM UNO-STIL. Vor der Einfahrt steht eine Tafel „Baustelle der Hauptstadt der Republik Mauretanien“. Hinter der Tafel ist der gelbe Sand zu einem riesigen Bauplatz geworden. Es stehen schon einige Gebäude, Wohnblocks für sechshundert Familien von Regierungsbeamten erster, zweiter und dritter Kategorie. Es sollen dreitausend werden. Ein Justizpalast mit riesigen Glasfronten und ein kleines Haus, auf dem „Assemblee Nationale“ steht, das Parlament der Republik. Nur Wasser gibt es noch keines, und der elektrische Strom, der im alten Nakshot erzeugt wird, ist viel zu schwach, und die Straßen hören dort auf, asphaltiert zu sein, und werden zu Pisten, wo die Tafel „Baustelle der Hauptstadt der Republik Mauretanien“ steht, und an einen Hafen an dem zehn Kilometer entfernten Meer kann entweder überhaupt nicht oder bestenfalls in fünfzehn Jahren gedacht werden, und die Menschen sind auch noch' nicht da, die in der „Bürokratopolis“ arbeiten oder die von hier aus modern administriert werden sollen. Nur mit dem Flugzeug kommt man in die neue Hauptstadt oder auf der sechshundert Kilometer langen Piste, und das dauert Tage. Die zukünftigen Bürokraten des werdenden Staates sitzen noch im Schoß ihrer Stämme, und die neuen Staatsbürger ziehen noch in der Savanne herum und zeigen sehr wenig Interesse an der neuen Ära.

Nut die Minister sind schon da. — Ould Daddah, der jugendliche, elegante Ministerpräsident aus hoher mauretanischer Kriegerkaste, der in Paris seinen Drv juris und seine Frau erwarb und seine Kaste und seine Anerkennung unter den maurischen Nomaden verlor. Und eine Unzahl Ressortminister, die in verlassenen Bauhütten darauf warten, in ihre UNO-Stil-Paläste übersiedeln zu können. Wichtiger als die Minister sind ihre französischen Kabinettchefs. Die sind in diesem Land aufgewachsen, die kennen das Land; sie sind die Brücke zwischen der zukünftigen Bürokratopolis, den mauretanischen Ministern, die „outeasts“ geworden sind, und den Nomadenstämmen. Unter ihnen M. Bourgarell, Direktor für innere Verwaltung, der ungekrönte König Mauretaniens.

„OULD DADDAH WILL, DASS ES VERTROCKNET, wie eine Rinderhaut auf der Piste“, sagt man mir. — Und „der Ministerpräsident schämt sich des alten Marktes vor den Toren der modernen Hauptstadt“. Das alte Nakshot ist sechs Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Aber es ist noch viel stärker als die in Bau befindliche Hauptstadt; es ist lebendig und gelöst und es gehört zum Land. Das alte Nakshot ist ein großer Nomadenmarkt mit dem „La Pergola“ einer Frau Eppstein, dem allerdings im Moment die Mädchen ausgegangen sind, einem großen Marktplatz, auf dem Kamele hysterisch schreien und von dem sich in der Nacht die Hyänen das faulende Fleisch holen; mit einem Wasserreservoir, das als kostbarstes Gut der Stadt von knüppelschwingenden Polizisten bewacht wird, und Hunderten von schwarzen Zelten vorüberziehender Nomaden auf dem roten Sand bis zum Horizont.

Im Zentrum des alten Marktes steht das einzige Hotel und Restaurant „La Oasis“, ein grauer, öder Steinbau um einen baumlosen Hof, einer ölfarbebestrichenen Schenke, unter deren Decke ein Riesenventilator unausgesetzt surrt. Hinter der Theke steht der Wirt, Typ Kolonialfeldwebel aus allen Kriegen, und die Wirtin, Typ „Mädchen aus Marseille“. In diesem Restaurant essen die Abgeordneten des mauretanischen Parlaments nach den Parlamentskonferenzen. Sie werden von schwarzen Kellnern bedient, die Monsieur Gomez von den Stämmen aus der Umgebung geliehen hat. „Je suis ud captive“, sagt mein Boy. — Sie sind Sklaven.

AUCH EINE SOZIALISTISCHE PARTEI gibt es im modernen Staat Mauretanien, Sie ist in Opposition gegen die Regierung und arbeitet eng mit der marokkofreundlichen und arabischnationalistischen Partei „Nadar“ zusammen. Der Führer und Gründer der Sozialistischen Partei Mauretaniens ist Ahmed Kerkoub, ein großer Scheich, der die Savanne um die alte Stadt Atar im Norden Mauretaniens beherrscht. Scheich Ahmed Kerkoub besitzt die Herde der berühmtesten Reitkamele in Mauretanien. Er hat viele Frauen und noch mehr Sklaven. Ich war in seinem Zelt eingeladen und aß dort bis in die tiefe Nacht mit einem der vielen Söhne des Scheichs. Wir wurden wie in „Tausendundeiner Nacht“ bedient, und wir saßen auf dicken und unendlich wertvollen Teppichen. Scheich Ahmed Kerkoub ist ein großer Herr der mauretanischen Wüste.

Er ist ein großer Krieger. Unter französischer Fahne hatte er seinen Stamm gegen die Feinde Frankreichs geführt, auch gegen Marokko. Dann traf Paris Sparmaßnahmen und demobilisierte den Scheich. Er wurde Chef Ghoum — in Ruhestand. Das paßte Ahmed Kerkoub nicht, und er entwickelte plötzlich großes Interesse für die Politik. Er wurde ein Parteigänger Marokkos, spricht von einem „Groß-Maghrebinischen Reich aller Islamstaaten im Norden Afrikas“ und macht Nakshot große Schwierigkeiten. Warum er seine Oppositionsgruppe „Sozialistische Partei“ nennt? Bourgarell, der monatelang mit Achmed Kerkoub durch die Wüste gezogen war, fragte den Scheich:

„Wieso kommst du darauf, eine Sozialistische Partei zu gründen? Werden deine Sklaven die Parteisekretäre sein?“

Und Ahmed Kerkoub antwortete: „Ihr habt in Europa so schöne Ausdrücke geprägt, warum sollen wir sie nicht verwenden?“

66 MILLIONEN DOLLAR gibt die Weltbank als Kredit für den Bau von Erzminen bei Fort Gouraud, weit im Norden des Landes. Als ich ein Stück Erde aufhob, war es schwer wie Erz. — Es ist Erz. Und um diese Erzlager bei Fort Gouraud dreht sich die ganze Politik in Mauretanien. Erz und Öl in einem jungen Staat sind ein gefährlicher Reichrum. Mauretanien ist blutarm wie die Savanne und nur für die Mauren, die vorüberziehen, reich, denn es ist ihr Land. Marokko würde sich um Mauretanien nicht scheren, wenn das Erz im Norden nicht wäre. Aber die Erzlager im Norden sollen die größten Afrikas sein, und deshalb erhebt Marokko territoriale Ansprüche auf die islamitische Republik Mauretanien, noch bevor sie das Licht der Welt erblickt. Hinter Marokko stehen die Kräfte der Arabischen Liga, die in dem Wunsche geeint sind, die Erzlager von Fort Gouraud nicht einem Staat zu lassen, der mit Frankreich und de Gaulles Communaute zu tun hat. Von Marokko und von der FLN in Algerien kommen Flugblätter, fanatische Muslimredner und nationalistische Propagandisten und bilden zusammen mit den Großkaufleuten von Atar die Opposition gegen das frankreichfreundliche Nakshot.

NAKSHOT IST EINE SCHWIERIGE POSITION für eine frankreichfreundliche Regierung im unabhängigen Mauretanien — für Frankreich. Es ist auf Sand gebaut; UNO-Paläste mit Klimaanlagen und einer ihren Stämmen entfremdeten Bürokratie inmitten blauhäutiger Nomaden. Diese Bürokratie, wenn sie entsteht, kann ein zweischneidiges Schwert für Frankreich werden, denn sie ist so schwach und entwurzelt, daß sie auf jedea Windhauch reagieren muß, der aus dem Inneren des Landes kömmt. Auch wenn der Wind sich gegen Frankreich richtete. Aber ich habe größere Einsätze und Kapitalien und wesentlichere gefunden, die Frankreich in Mauretanien hat; zum Beispiel Monsieur Bourgarell: Doktor der Rechte, Doktor der Literatur, der vor zwanzig Jahren als Nomadenlehrer nach Mauretanien gekommen war, zehn Jahre lang unter den Nomaden gelebt hat und jetzt das Land kennt -jeden Stein und jeden Krieger. Und vom Land anerkannt wird. Das ist das Kapital Frankreichs.

AUF DEM DAMM IN ROSSO kam uns ein Mädchen entgegen, das ein Gefäß mit Milch auf dem Kopf trug. Der junge Maure neben mir, der mich begleitete, sagte: „Sie singt für uns.“ Und er übersetzte: „Ich grüße euch, ihr Männer, die ihr den Damm entlanggeht. Ich grüße euch, ihr Männer, die ihr ernst miteinander sprecht. Ich grüße euch, ihr Männer, die ihr bald vorbei sein werdet.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung