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Berber, Berge, Burgen

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SIE SASSEN AM STRASSEN- RAND — ZWEI WINZIGE, unbewegte Punkte in der gigantischen Bergwelt des Hohen Atlas. Als wir uns näherten, kam Leben in die beiden Gestalten, denn sie wollten in das „Tal der Burgen“ mitgenommen werden. Autostopp ist in diesem Gebiet des Atlas, zwischen Midelt und Ksar-es-Souk, ein ziemlich hoffnungsloses Unternehmen. Der Verkehr ist spärlich und die wenigen Wagen sind meist mit Personen und Gepäck vollbeladen. Wir bedauerten, ihre bescheiden vorgebrachte Bitte nicht erfüllen zu können, doch sie nahmen es gelassen hin und hockten sich wieder in den Staub. Inschallah — wie Allah es will! Es war ein königliches Paar: der Mann, hochgewachsen, hellhäutig und blond, mit dem kühnen Profil eines Tiroler Bergbauern, die Frau unversehleiert, ihrer stolzen Schönheit wohl bewußt, das leuchtendblaue Brokatgewand mit silbernen Spangen auf den Schultern gehalten und mit klirrenden Silbermünzen im Haar. Das war unsere erste Begegnung mit den Berbern des Hohen Atlas.

Allzu leicht ist der Europäer geneigt, Berber und Araber gleichzustellen. Die Berber aber sind die Urbevölkerung jenes Streifens in Nordafrika, der an der kleinen Syrte beginnt, an der Küste des Atlantik endet und von den Arabern al- Maghreb, „Sonnenuntergang“ oder „Westen“ genannt wird. Die Herkunft der Berber verliert sich im Dunkel. Kamen sie aus dem Osten oder, wie eine gewagte Hypothese behauptet, aus dem Westen, versprengt vom sagenhaften, versunkenen Kontinent Atlantis? Wie die Fulba, Gaili oder Somali zählt man die Berber zu den Hamiten, einem Zweig der weißen Rasse. Phönizier, Römer und Byzantiner herrschten über den Maghreb, die Seele der Berber, ihre Sprache und Sitten haben sich nicht gewandelt. Als die Araber im 7. Jahrhundert den Maghreb überfielen und eroberten, zwangen sie den Besiegten mit dem Islam auch die arabische Sprache auf. Doch nur in den Städten vermischten sich die beiden Völker. Die Masse der Berber kämpfte an Seite der Byzantiner gegen die Eindringlinge, wurde aber in die Berge abgedrängt. In den unzugänglichen Schluchten und Tälern erhielten sich die Stämme völlig rein, sprechen ihre berberischen Dialekte, die, irgendwie dem Altägyptischen verwandt, durch ihren fauchenden Klang auffallen, und führen, vom Ablauf der Jahrtausende unberührt, ihr archaisches Leben, wie zur Zeit Abrahams. Befolgen sie auch die Gesetze des Koran, so sind sie darum ihren alten Göttern, den Geistern der Quellen und Bäume, nicht untreu geworden. Im Hohen . und Mittleren Atlas bezeugen Steinpyramiden mit Opfergaben ihren Götterglauben.

DIE STELLUNG DER FRAU STEHT IN scharfem Gegensatz zu jener der Araberin. Als Erbe einer archaischen Kultur, von der vermutet wird, daß sie matriarchalischer Art gewesen sei und die Frau als Hüterin der Sippe und die Erde als Mutter alles Lebendigen eine zentrale Rolle spielte, bekennen sich die Berber grundsätzlich zur Einehe und zur Gleichberechtigung der Frau. Die immer unver- schleierte Berberin zog zur Zeit der blutigen Stammesfehden in den Krieg, sie handelt mit Pferden und ist dem Manne eine treue Arbeitsgefährtin. Der Silberschmuck einer Berberin stellt das Familienkapital dar und hat einen festen Kurs. Bei der Heirat erhält die Braut ihre erste Schmuckgarnitur und, je nach der finanziellen Lage, werden weitere Schmuckstücke angeschafft oder es wird ein Teil des Schatzes veräußert. Im Winter, wenn dichter Schnee die zedernbestandenen Hänge des Mittleren Atlas bedeckt, hüllen sich die Frauen in bunte wollene Decken und ihre Waden schützen gestrickte Strümpfe mit farbigen, geometrischen Mustern.

Musik und Literatur der Berber, die eigentliche bodenständige Kunst im Maghreb, haben nichts mit arabischer Kunst gemein. Berbe- rische Musik verrät Beziehungen zum Mittelmeerraum, aber auch zum Süden, zum Sudan. Steppen, Wüsten und Berge leben in den primitiven, Pastoralen Weisen und in der Poesie, die wie zur Zeit Homers meist mündlich überliefert wird. Zur Arbeits- und Gebrauchslyrik tritt die Liebeslyrik. Sie spannt einen weiten Bogen von kühler Ablehnung zu lodernder Leidenschaft, tiefer

Trauer und Sehnsucht. Ergreifend ist das Liebeslied einer Frau in der Übertragung von R. Italiaander:

„Ich bin allein geblieben, denn mein Wunsch war eingeschlafen.

Als mein Wunsch erwachte, habe ich meine Augen gegen das Tal gewendet.

Ich wollte am Brunnen Wasser holen: er war vereinsamt.

Ich habe Holz angezündet in der Hoffnung, daß sich einer wärmen käme:

Meine Hoffnung wurde enttäuscht.

Ich habe gesungen: aber keine Stimme hat mir geantwortet.

Dann habe ich über meine Einsamkeit geweint.

Ich bin auf die Suche gegangen nach einem, der mein Zelt trägt.

Ich bin noch immer unterwegs.“

Wir finden bei den Berbern Seßhafte, Halbnomaden und Nomaden. Sie schließen sich zu Sippen, die oft mehr als 20 Haushalte zählen, zusammen. Unter der Oberhoheit eines Kaid bilden die Sippen einen Stamm, der 10.000 bis 100.000 Menschen umfaßt. Seit Jahrtausenden ist diese einfache Organisation unverändert geblieben und wie zur Zeit Assurs und Sumers hausen die Stämme in befestigten Dörfern und Burgen, den Ksars und Kasbahs, nur die Raubzüge und Fehden haben aufgehört. Noch vor wenigen Jahrzehnten betrat kaum ein Europäer die Gebiete des Rif, des Mittleren und Hohen Atlas. Bis 1952 waren militärische Bewilligungen zur Einreise in die „Zone der Unsicherheit“, das Tal der Kasbahs, erforderlich. Heute noch gleicht eine Fahrt in dieses Tal südlich des Hohen Atlas einer romantischen Reise ins Mittelalter. Kein Bild und keine Worte vermögen den Charme zu schildern, den die Kasbahs ausströmen. Aus rotem Lehm und kleingeschnittenem Stroh als Bindemittel erbaut, kleben sie am steilen Felshang oder herrschen über die grellgrünen Oasen der Flußtäler.

FÜR DEN ETHNOLOGEN WÄRE ES eine dankbare Aufgabe, alle die verschiedenen, teils vom assyrischen und teils vom maurischen Stil beeinflußten Typen zu studieren. An den Ecken der quadratischen Ringmauer erinnern vier pyramidenförmige Wehrtürme mit Schießscharten und einer Skala von geometrischen Ornamenten verziert, an unsere Ritterburgen und befestigten mittelalterlichen Städte. Sie boten sicheren Schutz für den Kaid, seinen Stamm, für Herden und Vorräte. Heute könnte sie ein einziger schwerer Tank zum Einsturz bringen. Durch An- und Zubauten entstanden malerische, unübersichtliche Komplexe von wolkenkratzerähnlichen Wohnblöcken, Türmen, Gängen und Höfen. Die imposanteste dieser Burgen, Taourirt in der Oase Ouarzazate, beherbergt 5000 Menschen! Bietet Taourirt schon von außen einen verwirrenden Anblick, so stehen wir beim Eintritt fassungslos vor einem Labyrinth. Planlos führen schlauchartige Gänge um und oft in völliger Dunkelheit durch die Wohnblöcke. Wir treten in Wasserlachen und stolpern über Schlafende. Nicht immer ist der Lehmboden in den dunklen Höhlen, den Werkstätten und Wohnräumen mit Stroh, Palmblättern oder Fellen bedeckt. Teppiche, Kupfer- und Messinggeschirr zeugen von Wohlstand. Gehüllt in schafwollene Burnusse arbeiten und schlafen die Menschen in engster Nachbarschaft mit ihren Tieren. Oft wachsen die Kinder als Analphabeten auf und erlernen frühzeitig ein Handwerk, denn nicht jede Kasbah hat eine Schule.

Die prächtigsten dieser Burgen gehörten einst dem berühmten Pascha von Marrakesch, dem „Glaoui“. Dieser vielumstrittene Staatsmann, Herr über eine Million Berber, wurde 1872 in der Chleuh-Kasbah Telouet geboren und hat viel zur Befriedigung Südmarokkos beitrag- gen. Eine tiefe Freundschaft verband den „Glaoui“ mit Marschall Lyautey, mit Präsident Roosevelt und Sir Winston Churchill, dem häufigen Gast im Hause des Paschas. Als Soldat und Diplomat erwarb sich der „Glaoui“ den Titel „der letzte Grandseigneur des Hohen Atlas“. Bald nach der Rückkehr Sultan Mohammeds V. aus dem Exil und dem Abzug der französischen Truppen, starb der Greis.

DIE KASBAHS SIND EINE WELT für sich. Ob in den Lichtspielen des jungen Morgens erstrahlend, ob umflirrt von der Glut des afrikanischen Mittags oder vom rosigen Licht der Abendsonne übergossen — immer faszinieren sie durch ihre romantische Schönheit. Steigen die Berber von ihren Höhen herab, um dem Kaid ihren Tribut an Früchten und Tieren abzuliefern, wird der große Burghof zum Schauplatz eines nächtlichen Festes. Ein mächtiges Feuer und Fackeln umlodern Türme und Zinnen. Unter Führung eines Zeremonienmeisters stehen den Männern auf der einen Seite des Feuers die Frauen in pastellfarbenen Schleiergewändern und mit schwerem Silberschmuck zur „Hadouche“, dem Volkstanz, gegenüber. Sie gehören meist zum Stamme der weißen Chleuhs. Klagend und schwermütig beginnen der Gesang und die monotone Weise der Flöten. Dumpfer Trommelwirbel setzt ein, hin und her schreiten die Frauen. Rasender hämmern die Männer auf die Handtrommel, wilder klingen die Stimmen, schneller das Stampfen der Füße, immer leidenschaftlicher wird der Tanz. Ein gellender Schrei — Tanz und Gesang brechen jäh ab. So vergeht die Nacht, die geheimnisvolle, afrikanische Nacht.

EINE GROSSARTIGE SCHÖNHEIT erfüllt die Landschaft im Tale der Burgen. Der Stein fängt zu blühen an. Zitronengelbe, schwefelgrüne und amethystfarbene Berge wachsen gleich abgebrochenen Pyramiden aus der flimmernden Wüstensteppe. Porphyrrote, zerfressene Felsblöcke wuchten wie Klumpen geronnenen Blutes über dem Giftgrün der Flußoasen. Hier haben sich die Flüsse Todra und Dades ihre tiefen Schluchten gegraben. Kaum fällt ein Sonnenstrahl zwischen die ziegelroten und ockergelben Wände. Staubfahnen wehen hinter unserem Wagen, ein blauer Reiter taucht aus dem Nichts und verschwindet im Nichts. Einsame Kamele zupfen an harten Haifagrasbüschel und ein Adler zieht seine Kreise. Die Sahara bläst ihren heißen Atem durch die Wagenfenster und greift mit Sanddünen über den Weg. Sie greift aber auch mit ihrem Zauber von Licht und Leere nach unseren Herzen und „täglich verlieren wir gründlicher den Sinn für Europas Klima und Lebensweise. Wie die Muselmanen wissen wir: Was kommt, das kommt und damit gut.“ (J. A. Rimbaud, Briefe aus dem Orient.)

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