Bitte Salz, nicht Säure!

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Religiosität und Sinnsuche sind keineswegs out, doch das Christentum ist nach 2000 Jahren unbequem wie eh und je.

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Religiosität und Sinnsuche sind keineswegs out, doch das Christentum ist nach 2000 Jahren unbequem wie eh und je.

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Früher hatten die Menschen die Perspektive "30 Jahre und die Ewigkeit", heute haben sie "90 Jahre und dann nichts mehr". Dieses Bonmot, vom Wiener Pastoraltheologen Paul Michael Zulehner jüngst bei der Feier seines 60. Geburtstages wiederholt, trifft den Zustand unserer modernen Gesellschaft: Man will nichts versäumen, man hat ja nur dieses relativ kurze Leben, man hetzt zwischen Arbeitslast und Freizeitlust oder auch Arbeitslust und Freizeitlast hin und her, man wünscht sich "alles und das sofort".

Das Jahr 2000 könnte ein Anlaß sein, einmal innezuhalten und über unseren Umgang mit der Zeit nachzusinnen, zum Beispiel über den Satz des Jesuitentheologen Henri de Lubac: "Das Christentum ist keine geschichtliche Größe: die Geschichte vielmehr ist eine christliche Größe." Aber eine solche Aussage setzt bereits einen Glauben voraus, wie er heute vielen abhanden gekommen ist. Für sie kommt das Jahr 2000 als Gelegenheit zu einem großen Event daher, und der Hinweis, daß das dritte Jahrtausend erst am 1. Jänner 2001 beginnt, vermag wenig gegen die Faszination von drei Nullen, die in der Jahreszahl auf drei Neuner folgen.

Außerdem wissen wir, daß das Ereignis, auf dem unsere Zeitrechnung beruht, die Geburt Jesu Christi, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schon sechs bis sieben Jahre früher erfolgt ist. Wir leben also längst im dritten nachchristlichen Jahrtausend und spüren immer deutlicher, was auch Umfragen in zeitgeistigen Magazinen besagen: daß ein hoher Prozentsatz der Menschen wesentliche Inhalte des christlichen Credos zunehmend bezweifelt. So ist es kein Wunder, daß wir verlernen, Weihnachten und andere christliche Feste mit Überzeugung zu begehen.

Sind nicht die wesentlichen religiösen Eckpfeiler des Jahres, Weihnachten und Ostern, und die entsprechenden Vorbereitungszeiten, Advent und Fastenzeit, schon längst in einer Flut von Events, den Früchten einer wuchernden Freizeit- und Unterhaltungsindustrie, untergegangen? In einer ORF-Teletext-Meldung zum 8. Dezember war wörtlich vom "Einkaufsfeiertag" und von "Einkaufstempeln" die Rede. Müßte in diesen Tempeln nicht der Text des bekannten Weihnachtsliedes ehrlicherweise "Süßer die Kassen nie klingeln" lauten?

Aber wann sonst, wenn nicht zum Jahr 2000 - mag sich auch einst ein Mönch um ein paar Jahre verrechnet haben -, sollte mit der Frage nach der Wurzel unserer Zeitrechnung auch die nach Gott und nach Dingen, die unserem Leben Sinn und Halt geben können, öffentlich artikuliert werden? Wie hat das Christentum in 2000 Jahren die Welt verändert? Und wie sehr hat es sich von der Welt verändern lassen?

Der deutsche Religions- und Kulturtheoretiker Hans Maier hat unlängst darüber bei Herder ein lesenswertes Buch ("Welt ohne Christentum - was wäre anders?") veröffentlicht. Der Innsbrucker Politologe Anton Pelinka erinnerte bei der eingangs erwähnten Geburtstagsfeier an ein Wort Friedrich Heers: Das Christentum habe Europa dauerhaft nur ein schlechtes Gewissen gebracht. Doch dieses schlechte Gewissen ist eine Chance, es kann der Ansatz zu Solidarität mit den Mitmenschen sein.

Orientieren am Gewissen ist nicht immer Orientieren an der Institution Kirche. Laut Pelinka beruhen zwar wichtige moderne Errungenschaften auf dem Christentum, etwa die Menschenrechte, aber sie wurden von protestantisch-freimaurerischen Kreisen, nicht von der eher hinderlichen römisch-katholischen Kirche durchgesetzt. Die Kirche hat zweifellos ihre Stärken, doch ihre zuletzt mehrfach gezeigte Unfähigkeit, mit Fehlverhalten in den eigenen Reihen umzugehen, hat dazu beigetragen, daß sie ihre Autorität weitgehend verspielt hat. Das institutionelle Christentum läuft Gefahr, nicht als Salz, sondern als Moralinsäure der Erde wahrgenommen zu werden.

Weihnachten ist für Christen eine Nagelprobe. Nimmt man die Weihnachtsbotschaft einmal abseits aller Exegetentüfteleien beim Wort, so lenkt sie auf äußerst unbequeme Themen: Kind, Armut, Obdachlosigkeit und Flucht. Für Kinder haben viele heute wenig übrig, vor allem wenig Zeit, Armen und Obdachlosen wird zunächst einmal unterstellt, sie seien selbst schuld an ihrem Los, und Flüchtlinge schiebt man rasch mit rüden Methoden wieder ab - welche Folgen das haben kann, ist bekannt. Mit dem Reichtum einer Gesellschaft wächst offenbar ihre Gier. Ein Gott, der Teilen einmahnt, der sich mit den "geringsten Brüdern" identifiziert, muß ihr unbequem sein. Aber am Hauptgebot der Nächstenliebe führt im Christentum kein Weg vorbei.

"Wer in Gott eintaucht, taucht neben den Armen auf", hat Paul Zulehner treffend formuliert - wollen deswegen heute nur wenige in das Christentum eintauchen?

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