Der Reiz des fremden Blicks

19451960198020002020

"Herrn Kukas Empfehlungen": Radek Knapps zweites Buch.

19451960198020002020

"Herrn Kukas Empfehlungen": Radek Knapps zweites Buch.

Werbung
Werbung
Werbung

Der neue Knapp". Das signalisiert Arriviertheit. Dabei haben wir es erst mit dem zweiten Buch des 35jährigen, aus Polen stammenden Autors zu tun. Nach dem mit Preisen, Stipendien und Kritikerlob bedachten Erzählband "Franio" von 1994 liegt sein erster Roman vor: "Herrn Kukas Empfehlungen".

Zwei Ferienmonate lang möchte der junge Pole Waldemar Westluft schnuppern. Alle Freunde sind in Deutschland oder Schweden. Die ängstlichen Eltern wollen ihn zurückhalten, aber Waldemar ist nicht aufzuhalten, denn "ehe man sich's versieht, sitzt man schon im Schaukelstuhl und strickt Schals" wie seine Mutter "oder schlimmer noch, man wacht eines Tages auf und ist tot". Wenn Herr Kuka, ein zwielichtiger Nachbar, nicht vermittelt hätte, hätte der Westen für den jungen Entdecker nicht Wien geheißen, aber schließlich "ist Westen überall Westen". Allerdings stellt sich heraus, daß Herrn Kukas Empfehlungen sich in ihr glattes Gegenteil verwandeln, der Dream-Travel-Bus in einen umgestürtzten Kühlschrank, der Glücksbringer in ein Schmuggelversteck, das Hotel Vier Jahreszeiten in eine Parkbank.

Aber um mit Bohumil Hrabal, dem großen Vertreter der tschechischen Literatur des 20. Jahrhunderts, zu sprechen, dessen Patenschaft angenehm auffällt: Waldemars Glück besteht gerade darin, daß ihm Unglück widerfährt. Auch ist es Waldemars Stärke, wie jene von Hrabals Antihelden, Schwäche zeigen zu dürfen, was sich in der Wirklichkeit heute niemand mehr leisten kann. Das Buch liest sich - höchst verspielt in Gefühlen, Worten und Taten - wie ein großes Fragezeichen, das der Autor hinter die Errungenschaften der Konsumgesellschaft setzt. Waldemar, dem die Eltern "die Regeln des 19. Jahrhunderts" angedeihen ließen, blickt gänzlich unbefangen in die neue Welt und voll Poesie auf das andere Geschlecht. So unbefangen und poetisch, wie es im wirklichen Leben bei Strafe des Spielausschlusses längst verboten ist. Radek Knapp setzt ein kokettes Fragezeichen hinter Schein, Fassade und Ellbogenstärke in unserer Welt, deren Charakteristik beinharte Konkurrenz ist. In den Beschreibungen der Eindrücke seines Helden beweist er besondere Stärke.

Nachdem Waldemar, die "halbe Portion", die zum Ausgleich "mehr Diplomatie als das amerikanische Außenministerium besitzt", die abenteuerliche Fahrt in einem Bus voller Wodka und Krakauer Würsten in Gesellschaft professioneller Schmuggler und Schwarzhändler einschließlich Zollkontrolle heil überstanden hat, macht er die ersehnte Bekanntschaft mit dem Westen. Die Wiener machen ihm "einen entspannten und harmlosen Eindruck ... Über allem hing eine eigentümliche Langsamkeit. Ich dachte bis jetzt, im Westen würde es nur so vor Leben beben. Wie in diesen Zeitrafferfilmen, wo Leute wie Ameisen über Zebrastreifen laufen, wo Flugzeuge starten und gleich wieder landen oder Blumen in Sekundenschnelle wachsen und welken. Aber hier bewegen sich die Leute so langsam, als legte man überhaupt keinen Wert darauf, wohin man ginge, ja, als hätte man überhaupt kein Zuhause." Am ersten westlichen Kaufhaus beeindruckt Waldemar die zehn Meter hohe Fassade aus Marmor, obwohl ihm Marmor egal ist. Aber sein Großvater wünschte sich nichts sehnlicher als eine Grabplatte aus Marmor, die sich die Familie wegen ihres Preises im Gegenwert eines Mittelklassewagens nicht leisten konnte. Er bekam die obligate Betonplatte. "Ich war wirklich froh, daß er dieses Kaufhaus nicht sah. Es hätte für fünfzig Großväter gereicht."

Eine Mitreisende kennt als Putzfrau die vorbeiziehenden Bürohochhäuser von innen: Die Angestellten "sitzen vierzehn Stunden am Tag über den Computern. Ihre ganze Abwechslung liegt darin, dreimal am Tag auf die Toilette zu gehen, und das Essen holen sie aus einem Automaten, der auf dem Flur steht. Sie verzehren es über ihren Computertastaturen. Die Hälfte davon landet zwischen den Tasten, und sie merken nicht mal was davon. In ihren Armani-Sakkos tragen sie eine ganze Apotheke gegen Kopfschmerzen und Gastritis. Nach Büroschluß sehen sie wie Zombies aus. Aber glauben Sie, daß sich jemals einer deswegen beschwert hätte? Im Gegenteil. Je mehr Magenschmerzen sie haben, desto süßer lächeln sie." In Wien beginnt sich der Westen Waldemar zu erschließen, wenn auch auf schmerzliche und abenteuerliche Art. Wobei die Polen von einem polnischen Autor durchaus klischeehaft dargestellt werden (dürfen): Polen, die andere Polen mitunter auf hinterhältigste Weise hineinlegen oder wie Weihnachtsgänse ausnehmen. Am Ende bekommt Waldemar auch eine Antwort auf die Frage, warum es ihn ausgerechnet nach Wien verschlug. Wer könnte sie besser beantworten als eine begehrte starke Frau, die noch nie einem so "pathetischen Holzkopf" mit so "schwülstiger Phantasie" begegnet ist. Aber wie wir aus dem ersten Buch wissen, hat "die Sprache der Liebe" für die Slawen "einen eigenen Jargon, den nicht jeder versteht".

Als Radek Knapp mit zwölf nach Wien übersiedelte, konnte er kein Deutsch. Zwei Jahre später erlebte er seine Überraschung ausgerechnet im Deutschunterricht: "In Polen war ich nie gut gewesen im Aufsatzschreiben. Hier aber hatte ich plötzlich alle Hemmungen abgelegt, denn ich verstand und fühlte nicht so genau wie in meiner Muttersprache, folglich schämte ich mich in der neuen Sprache auch nicht, meine ganz persönlichen Erlebnisse niederzuschreiben. Ich habe in der Fremde eine Sprache gefunden, die mir auf den Leib geschnitten ist. Ich werde sie zwar nie so gut beherrschen wie meine Muttersprache, aber ich werde sie immer dann benutzen, wenn von meinen Gefühlen die Rede sein wird."

Wir dürfen uns also auf weitere Knapps freuen, ohne ihn hetzen zu wollen. Den Marktgesetzen unterwirft er sich ohnehin nicht. Er hat ja schon in "Franio" gewarnt: Wir Slawen sind "schrecklich sensibel" und "ein bißchen eigenartig". Auf jene Eigenart, welche die Rezensentin ihrerseits als das slawische gewisse Etwas entdeckte, soll noch lange nicht verzichtet werden - auch nicht im zweifelhaft goldenen Westen des 21. Jahrhunderts.

Herrn Kukas Empfehlungen. Roman von Radek Knapp. Piper Verlag, München 1999. 251 Seiten, geb., öS 277,-/ E 20,13

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung