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Die Buchwidmung

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Diese kleine Geschichte erzählte uns Ritschi im Osten. Der hagere, versonnene — wenn es drauf ankam — eiskalte Richard, den wir noch vom Kanal her Ritschi nannten. Dabei saßen wir nach dem Abendbrot in einer dürftigen Küche des kleinen Dorfes und der Herd, in dem die Scheiter prasselten, gab uns noch Wärme und etwas Lichtschein. Die Abende im September wurden schon empfindlich kühl...

Ludwig war auch dabei — und ich. Die Zigaretten aus dem eisernen Vorrat schmeckten herrlich. Behaglich und genießerisch, als wären sie das Kostbarste auf Erden, bliesen wir den Rauch in den niederen Raum. Eine Flasche Rumverschnitt stand auf dem Boden.

Da fing Ritschi plötzlich zu erzählen an. Es kam ja nicht oft vor, daß er uns etwas erzählte, daher hörten wir gespannt auf seine tiefe, beinahe flüsternde Stimme, die manchmal eigentümlich geheimnisvoll klang, durchbebt von einem nachklingenden tiefen Erleben. Ritschi, der Glückliche, war erst vor kurzem auf Urlaub daheim gewesen.

„Daß sich unter den ersten der vielen Wege, die man sich seit Monaten sorgsam für den Urlaub zusammengestellt hat“, — so begann er zu erzählen — „ein Bummelgang zu allen nah und fern gelegenen Buchhandlungen nicht fehlen durfte, werdet ihr bei meiner Vorliebe für Dichtung begreifen können. Aus Liebhaberei suchte ich nach billigen antiquarischen Werken, auf die es mir hauptsächlich ankam. So fortschte ich emsig in den Auslagen und fragte hin und wieder in den Geschäften.

Da reichte man mir, als ich einmal nach Hermann Hesse fragte, einen abgenützten kleinen Band des ,Knulp' hin. Schon wollte ich das Buch wieder zur Seite legen, da ich mich bestimmt zu erinnern glaubte, den ,Knulp' daheim zu haben. Plötzlich aber fiel mir ein, ich hätte das Buch ja meinem Freunde Waldemar geschenkt, afs Liebstes dem besten Freunde. Wenn mich die Gabe auch später nicht reute, so hatte ich dennoch den Band oftmals vermißt — und jetzt, nach so langer Zeit, hätte ich ihn gern wieder gehabt.

Als ich nun gewohnheitsmäßig die ersten Seiten aufschlug, wollte ich meinen Augen nicht trauen und muß wohl merklich erblaßt sein. Der Verkäufer starrte mich erstaunt an. Auf dem ersten Blatt stand von meiner eigenen Hand geschrieben eine Widmung: für meinen Freund Waldemar!

Ihr könnt euch vorstellen, was mir alles durch den Kopf schoß. Doch nahm ich jetzt nur hastig das F\uch vom Bord, zahlte und verließ eilig den Laden, da ich allein die unverhoffte Entdeckung prüfen und sie überdenken wollte. Nochmals schaute ich auf das Blatt, gleichsam um mich zu vergewissern, nicht zu träumen: nein, es war kein Irrtum möglich. Waldemar mußte das Buch einmal verkauft oder in andere Hände gegeben haben. Gab et es her — und warum nur? Hatte er mich vergessen, war ihm mein Andenken bedeutungslos? Hatte er sich so gewandelt oder so viel durchgemacht, daß ihm ei Buch keinen Trost mehr geben konnte? •— Grundlos hatte er sich nicht von ihm getrennt, denn so gut kannte ich den Gespielen meiner Jugend.

Wir hatten sogar mitsammen einen übermütigen Sommer verlebt, mit all den versteckten, reizvollen, so bedeutungsvollen und erschütternden Abenteuern, wie sie nur Junge* in jenem Alter erleben können, aufregend und unvergeßlich, überstrahlt von einem nicht eadenwollenden, herrlichen Sommer, beschattet von mächtigen Kastanienbäumen, unweit ines kleinen Sees, den wir oft mit unserem selbstgezimmerten Floß befahren, in dessen raschelndem Schilf wir verharrten und dabei kühne Pläne erwogen.

Später studierten wir zusammen. Doch nach der Reifeprüfung, zu der ich ihm den ,Knulp' geschenkt hatte, waren wir gänzlich auseinandergeratea. Jetzt, da ich diesen kostbaren Fund in Händen hielt, brannte ich darauf, zu erfahren, wohin es Waldemar verschlagen, was er getrieben und erlebt hatte. Denn jeder war seiner eigenen Wege gegangen, hatte eine andere Stadt, em anderes Land besucht und wir begegneten uns dann niemals wieder.

Der restliche Urlaub war zum Teil den Nachforschungen um Waldemars Verbleib gewidmet, und ich ruhte nicht eher, bis ich alle seine Anverwandten, ehemaligen Freunde und unsere gemeinsamen Bekannten aufgesucht und selbst bei den Behörden nach ihm gefragt hatte. Dafür gelang es mir aber, seine frühere Anschrift und, was jetzt noch viel wesentlicher war, seine Feldpostnummer zu ermitteln. Darüber war der Urlaub zur Neige gegangen und ich fuhr beglückt, im Besitz des Buches und der wertvollen Auskunft, zurück, mit dem Vorsatz, Waldemar sofort zu schreiben. Dies führte ich auch aus und fühlte mich dadurch einer lieben Aufgabe und Pflicht ledig. Gespannt harrte ich auf Antwort...

Tage und Wochen verstrichen. Wir hatten inzwischen einige Male Stellung gewechselt. Endlich erreichte mich ein Schreiben. Es zeigte jedoch nicht Waldemars Handschrift, sondern war steif mit der Maschine verfaßt und von einer Dienststelle abgesandt. Erstaunt und mit zitternden Fingern erbrach ich den Brief und überflog den Inhalt. Der weiße Bogen entglitt meiner Hand. Waldemar war am 28. bei den schweren Kämpfen um B. gefallen! —

28., 28.. . .? — ich wühlte mein Taschenbuch hervor, blätterte fieberhaft, denn an diesen Tage mußte ich ja noch Urlaub gehabt haben. Und da stand es schwarz auf weiß vermerkt, daß ich an jenem 28. das Buch, die Erinnerung an eine wundersame Freundschaft, wiederentdeckt hatte — am gleichen Tage, ah dem Waldemar den Tod gefunden hatte.

Ich sollte ihn also nie mehr wiedersehen, nichts mehr über ihn und sein verflossenes Leben erfahren. Genügt denn eine Jugend, um alles über einen Menschen zu wissen?

Ich unterließ weiteres Grübeln und Nachforschen. Was kann der Mensch schon dort ermessen, wo die Grenzen des Menschlichen aufhören? Soll es ein Gruß von ihm gewesen sein? Alles in mir war aufgewühlt. Mir ist jetzt der ,Knulp' aufs neue und heißer als je zuvor ans Herz gewachsen.“

Ein langes klaffendes Schweigen lastete über uns, als Ritschi schwieg. Die letzten Klötze verbrannten im Herd und beleuchteten mit zuckendem Aufflammen den Rauch unserer Zigaretten, der um die Feuerstelle schwebte. \.

Da stieß plötzlich einer die Flasche am Boden um und erschreckt und hastig erhoben wir uns, drückten Ritschi die Hand und verließen mit einem leisen „Gute“ Nacht!“ den Raum, um den im Dunkeln Zurückbleibenden nicht aus seiner Versunkenheit zu wecken .. •

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