Enzensberger - © APA / Wolfgang Maria Weber

Der Zeitgeist-Jäger und seine Passionen

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Wer durch seine Schule gegangen ist, empfindet vieles von dem, was einem sonst als lehrreich angeraten wird, als kindisch: Zum 90. Geburtstag von Hans Magnus Enzensberger.

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Wer durch seine Schule gegangen ist, empfindet vieles von dem, was einem sonst als lehrreich angeraten wird, als kindisch: Zum 90. Geburtstag von Hans Magnus Enzensberger.

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Meine erste Begegnung mit Nelly Sachs, Attila József und Fernando Pessoa kam durch eine freundliche Handreichung Hans Magnus Enzensbergers zustande. In der Anthologie „Museum der modernen Poesie“ versammelte er eine Vielzahl lyrischer Stimmen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Österreich bis Kuba, die so unterschiedlich tönten, dass schwer einzusehen war, dass sie das Einverständnis zusammenhält, unsere Wirklichkeit mit den Mitteln der Sprache zu erfassen.

Daran konnte man nur glauben, wenn man von der Ansicht Abstand nahm, dass es nur eine Wirklichkeit gibt. Natürlich muss die Wirklichkeit der Nelly Sachs, die 1940 vor den Nazis nach Schweden entkam, anders ausgerichtet sein als jene von Nazim Hikmet aus Anatolien, der sich den Kommunisten anschloss und nach Moskau zog. Dem Vorwurf, moderne Lyrik sei unverständlich, hielt Enzensberger entgegen, dass auch Pindar und Goethe dunkel seien, nur sei das „vergessen, verdrängt, unschädlich gemacht worden [...] Widerspruch ist auch ihre Poesie“. Klar, dass für Enzensberger ein Jugendlicher, der sowieso auf Widerspruch zur Gesellschaft ausgerichtet ist, zu kriegen ist.

Die Bücher von Hans Magnus Enzensberger und die Musik von Led Zeppelin gehörten zur geistigen Grundausstattung, als ich in den 1970er Jahren im Pinzgau heranwuchs. Beide standen für Aufbruch und ein Denken, das nicht erwünscht, aber immerhin geduldet wurde. Wer durch die Schule Enzensbergers gegangen ist, empfindet vieles von dem, was einem sonst als lehrreich angeraten wird, als kindisch. Das fängt schon beim Umgang mit der Sprache an. Enzensberger zu lesen bedeutet, dem Deutschen Nuancen und Zwischentöne abzugewinnen, die einem sonst unbekannt geblieben wären. Das hat mit der Lust am Denken zu tun, das einem nie letzte Weisheiten auftischen will. Deshalb wirken Texte von Enzensberger gerade so, als seien sie nur Zwischenstation auf einem langen Prozess der Welterkundung, von der nicht abzusehen ist, ob sie überhaupt jemals an ein Ende kommt.

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