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Salzburg als Anstoß zu einer notwendigen Debatte über Kunst und Zeitgenossenschaft.

Den Blick auf die Katastrophen der Vergangenheit, auf die Toten gerichtet, aber von einem Sturm in die Zukunft getrieben - so hat Walter Benjamin, ein Bild von Paul Klee interpretierend, den Angelus Novus, den Engel der Geschichte beschrieben. Jürgen Flimm hat dieses komplexe Bild in der Eröffnungsrede der ersten Salzburger Festspiele aufgegriffen, die er als Intendant verantwortet. Und dabei auch davor gewarnt, dass uns die Vergangenheit zum beliebig verfügbaren Material wird: "Selten sind wir wie heute von Altem so überflutet worden, wir müssen klug sein, dass uns die Gegenwart nicht abhanden kommt." Eine wichtige Warnung gerade in Salzburg, wo sich so viel fürsterzbischöflicher Barock über die Gegenwart wölbt und Hofmannsthals "Jedermann" seit Festspielgründung den Domplatz blockiert.

Ebenso am Platz war im hehren Festspielbezirk Flimms Hinweis auf die oft diffamierte Unterhaltungsmusik, auf die "leichte Kunst" als eine sehr "gegenwärtige Kultur, eine vitale Kunstform". Er hätte, denkt man angesichts des Todes von Ingmar Bergman, auch dem Film als dem Theater ebenbürtige Kunstform das Wort reden können. Da mögen kritische Geister freilich gleich den Hollywood-Ramsch ins Treffen führen und vor Kommerz warnen. Aber diese Warnung ist längst auch bei der Klassik angesagt, die ohne Netrebko-Hype und ähnliche Events nicht mehr auskommt - im wörtlichen Sinn gemeint: Sonst geht ihr das Geld aus. Denn der CD-Verkauf ist angesichts billiger Brennmöglichkeiten im Keller, und die "öffentliche Hand" zieht sich in neoliberalen Zeiten (bei weitem nicht nur) aus der Kunst zurück - siehe die seit zehn Jahren eingefrorenen Subventionen der Salzburger Festspiele. Da werden Einnahmen und ein Sponsoren-taugliches Programm eben immer wichtiger.

Ist Flimms Klage "Was ist denn bloß passiert mit unserer Zeitgenossenschaft. Und dem Ausdruck unserer Gegenwart?" also das Eingeständnis, dass man mit einer Oper des 20. Jahrhunderts in Salzburg nicht punkten kann? Oder warum ist sie im Programm des Intendanten, der fehlende Zeitgenossenschaft beklagt, auf eine Uraufführung reduziert? Einem Programm, dessen Thema Die Nachtseite der Vernunft der Gegenwartsbezug freilich nicht fehlt. Flimm will die Aufklärung auf den Prüfstand stellen, ohne die Arsenale der Gegenaufklärung zu öffnen - eine Ansage freilich, die groß genug ist, um Beliebigkeiten der Auswahl zu rechtfertigen. Es steht uns ja, Flimm hat darauf hingewiesen, so viel Vergangenes zur Verfügung.

Wo es nicht nur wie in einem "imaginären Museum" (André Malraux) konsequenzlos zur Verfügung steht, sondern wo Benjamins Engel der Geschichte seinen Blick auf die Leiden und Opfer der Vergangenheit nicht lösen kann, dort kann große Kunst entstehen. Wie bei Jorge Semprún, dem am vergangenen Sonntag in Salzburg der Österreichische Staatspreis für europäische Literatur verliehen wurde (siehe Interview Seite 9). Aus seinen Büchern "tritt uns ein Erzähler entgegen, der in seiner Biographie die Grundfiguren des Jahrhunderts versammelt - Flüchtling, Illegaler, Deportierter, Lager-Insasse, Widerständler, Exil-Politiker, Staatenloser, Fremder, Kommunist und klassischer Renegat -, ein Erzähler, dem das ganze Rollen-Arsenal der Epoche zur Verfügung steht: Augenzeuge der Barbarei, Chronist der Erfahrungen in totalitären Zeiten, Gedächtnisspeicher für die Toten, Überlebender der Hölle, Zeitanalytiker, Reflexionsorgan für eine unendliche Aufgabe, genannt: Erinnerung", wie Sigrid Löffler in ihrer brillianten Laudatio ausführte.

Wenn wir heute über die "Nachseite der Vernunft" und über "Aufklärung" reden wollen, geht es auch um dieses Thema: Wie es möglich ist, dass noch heute ein Presse-Leitartikel das Sowjetsystem als "den ersten und am meisten Menschen verschlingenden Faschismus des 20. Jahrhunderts" bezeichnet - und damit den Nationalsozialismus automatisch zu einem "zweiten" Faschismus verharmlost. Die genaue und nicht instrumentalisierte Erinnerung an beide Terrorsysteme und an die Massengräber der Nationalismen ist die Wurzel einer Kunst, die nicht zur Behübschung der Freizeit verkommt. Nur von hier weht der Aufwind, der den Engel der Geschichte in die Zukunft trägt. Das, nicht die Grenze zwischen U und E, ist wichtig.

cornelius.hell@furche.at

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