6685026-1962_12_11.jpg
Digital In Arbeit

DIE NEUE PROVINZ

19451960198020002020

„Hochverehrte Bundesländer, Ihr behauptet zwar immer, daß wir Euch ah Provinzen ansehen. Ihr könnt beruhigt sein, wir tun dies nicht; aus dem einen Grund, weil wir der Überzeugung sind, daß es in Österreich nur ein Bundesland gibt, das die Chance hat, .Provinz' zu werden, nämlich Wien selbst.“ (Willy Lorenz: „A. E. I. O. U.“)

19451960198020002020

„Hochverehrte Bundesländer, Ihr behauptet zwar immer, daß wir Euch ah Provinzen ansehen. Ihr könnt beruhigt sein, wir tun dies nicht; aus dem einen Grund, weil wir der Überzeugung sind, daß es in Österreich nur ein Bundesland gibt, das die Chance hat, .Provinz' zu werden, nämlich Wien selbst.“ (Willy Lorenz: „A. E. I. O. U.“)

Werbung
Werbung
Werbung

Als ich begann, mir über dieses Thema Gedanken zu machen, trat ich auch an einige Freunde mit der Frage heran, was sie mir vielleicht dazu sagen könnten, und mußte die Erfahrung machen, daß sie mit dem Themenkreis zwar vertraut, nur zu vertraut, waren, dennoch aber so recht keine Antwort zu geben wußten. Antwort, was Provinz sei, woran man sie erkennen könne, wo sie zu suchen und wo sie zu finden sei. Einig aber waren sie mit mir in dem Wissen, daß die Expansion des Provinziellen uns alle in immer stärkerem Maße bedrohe. Ludwig Marcuse hat es in „Mein 20. Jahrhundert“ besonders kraß, weil schon resignierend, formuliert: „Ach, wir merkten es gar nicht und wurden Provinzler...“

Wir stehen somit einer Tatsache gegenüber, einer Gefahr — sofern wir uns überhaupt noch entschließen können, in dieser Tendenz ein Negativum zu sehen —, der wir uns nicht recht zu erwehren wissen, weil wir nicht die Möglichkeit haben, sie eindeutig zu bestimmen, sie immer gleich auf den ersten raschen Blick erkennen zu können.

In der billigsten, aber auch verbreitetsten „Definition“, in der Kritik mit Vorliebe geübt, ist Provinz immer und auf jeden Fall der andere und das, was dieser andere macht. Provinz wäre also, von Wien aus gesehen, was außerhalb Wiens geschieht, eben in der Provinz. Nomen est omen, und zum Namen gesellt sich für uns Österreicher überdies noch die scheinbare Beweisgewalt des Reimes, jenes Reimes, der so schön und brauchbar Provinz mit der Landeshauptstadt Linz zur Deckung bringt. Aber die Zeiten, da es anging, nur einem Liebhaber das schier Unüberbrückbare zuzumuten, „ein Dirnderl aus der Provinz, a halbe Stund entfernt von Linz“ wählen zu können, sind längst vorbei; nur das Lied erzählt noch davon. Und einige Leute in Wien scheinen es auch zu behaupten.

Letzten Sommer stieß ich in einer Kärntner Tageszeitung auf einen Artikel, der mir diese vergangene und eigentlich sehr liebenswürdige Form des Provinzialismus widerzuspiegeln schien. Anläßlich des Todes von Henny Porten, der berühmten Filmschauspielerin, konnte man, im letzten Absatz einer allgemeinen Würdigung der Künstlerin, lesen: „Henny Porten war mit den Besitzern des Kinos X in Klagenfurt gut befreundet. Zum 50. Bestandsjubiläum des Kinos bedauerte die Schauspielerin, nicht selbst kommen zu können, und zum 70. Geburtstag ließ die Besitzerin des Kinos der Künstlerin in Berlin über den .Internationalen Tortenring' eine Geburtstagstorte überreichen.“ — Der „Internationale Tortenring“, von dessen Bestehen ich bislang nichts gewußt hatte, hat mir sehr gefallen, und ich habe an die oft zitierten Worte Habakuks gedacht und des Ansehens, das-er sich mit ihnen geben vefttjeini: ;,Ieh war zwei Jahre in Paris.“ Dann aber habe ich an die Nachrichten gedacht, wie sie in-Wiener Tageszeitungen unter Titelnlwie „Wien privat“ oder „Adabei“ anzutreffen sind, und dabei drängten sich mir dann

dummen Spalten zu einem „Erfordernis der Zeit“ machen. Sie haben sich heute den Platz erobert, der vordem den antiprovinziellen Tendenzen des Feuilletons und der Glosse zur Verfügung stand.

*

Historisch gesehen ist Provinz ein Verwaltungsterminus des alten Rom. Sinnigerweise wurde zur ersten Provinz im Jahre 241 v. Chr. Sizilien erklärt. Sinnigerweise deshalb, weil es wohl kaum einen Landstrich gibt, den der Italiener, also der Mailänder, der Turiner, der Florentiner und der Römer, deklassierender als provinziell einstufen würde als diese Insel. Suchen wir uns aber an einige Namen der jüngeren italienischen Literatur zu erinnern, die internationalen Klang haben, so fallen uns zuerst — wenn nicht gar ziemlich ausschließlich — die Sizilianer Giovanni Verga, Luigi Pirandello, Salvatore Quasimodo, Elio Vittorini ein. Die Verwechslung der Provinz als geistiges Territorium mit einem geographisch bestimmbaren Raum ist also nicht allein auf Österreich beschränkt.

Die ärgste Versuchung, sich im geistigen Territorium der Provinz anzusiedeln, besteht heute in der Furcht, nicht, und in der Sucht, j a modern zu sein. Die Angst, für provinziell gehalten zu werden, stürzt heute manchen ins Verderban, dem dies Schicksal sonst erspart bliebe; denn die andauernde Angst, des Provinziellen geziehen zu werden, schafft Provinz. Als Ausweg scheinen sich zwei Möglichkeiten anzubieten: Tradition und Modernität. Jene falsch verstandene Tradition, hinter der sich nichts als getarnter Provinzialismus verbirgt, ist ja noch einigermaßen leicht zu durchschauen; ich erinnere an eine Äußerung Raoul Aslans — vor Gericht getan —, in der er sich im Alterseifer zu der Forderung verstieg, daß so geheiligte österreichische Kulturinstitutionen wie die Oper und das Burgtheater vor jeder befleckenden Kritik von Staats wegen geschützt werden müßten. Viel schwieriger jedoch steht es um das Erkennen der nur provinziellen Modernität. Leider gehört es zu den verfänglichsten, aber auch verbreitetsten Irrmeinungen, „Modernität“ schließe Provinzialismus aus. Im Gegenteil, sie ergänzen einander vielfach. Deshalb ist nichts provinzieller als andauernde Revolution, und diese Feststellung trifft — neben einigen Irrwegen des modernen Theaters — vor allem auf die bildende Kunst zu. Zerstörung und Sinnlosigkeit sind in einer Zeit wie der unseren, in der all dies von der Wirklichkeit weit besser und perfekter geleistet wird, nicht mehr als Spielerei und Anachronismus. Es gibt heute in Wien (und auch anderswo) mehr als eine Galerie, an deren Wänden Malprodukte hängen, über deren Dürftigkeit auch dialektisch geschulte Eloquenz nicht hinwegtäuschen kann und die ihren avantgardistischen Anspruch nur erheben und aufrechterhalten können, weil das ungeschulte Publikum die fast identischen Bestrebungen der Großväter — zwei Generationen ist das ja nun schon bald her — nicht in dem Maße zum Vergleich heranziehen kann, wie es die Leiter dieser Galerien und die Kritik können müßten.

Das Schlagwort vom „Verlust der Mitte“, an der die Kunst unserer Zeit angeblich kranke,' hat weiteste Kreise darüber hinwegzutäuschen gewußt, daß es ein Verlust der Maßstäbe war, der zu der provinziellen Situation unseres augenblicklichen Kulturbetriebes geführt hat. Wir leben, wir denken, wir schaffen alexandrinisch, und die Kunstprodukte der Gegenwart sind weitgehend aus diesem Geist der Wissensanhäufung entstanden und erklärbar. So voll sind wir der Möglichkeiten, derer wir uns beliebig bedienen können, daß wir die Voraussetzungen der Form vergessen haben und uns gar nicht mehr recht getrauen, die Meinung und die Leistung eines einzelnen anzuerkennen, geschieht sie nicht im sanktionierten Rahmen, sondern kommt aus der — diesmal geographisch gemeinten — Provinz. Davor haben wir uns zu hüten.

Nicht daß es in Wien heißt: „Ausgenommen Fiaker“, stempelt uns zu Provinzlern, sondern daß es geschehen konnte, daß unser ehrwürdigstes Symbol, die Kaiserkrone, als Theaterrequisit mißbraucht wurde; und nicht die Gebotstafel: „Brathendl haben Vorrang“ sollte zu denken geben, sondern die Tatsache, daß der „breiten“ Wiener Öffentlichkeit der Opernball wichtiger ist als hundert Opernvorstellungen.

„In Linz müßte man sein ...“, endet eine Brettlnummer von Qual tinger. Hoffentlich glauben die Leute nicht, das wäre nur parodistisch gemeint.

EZRA POUND

ABC DES LESERS

Ein klassisches Werk ist klasssich, nicht weil es sieh gewissen Regeln des Aufbaues fügt oder zu gewissen Definitionen stimmt (von denen sein Autor höchstwahrscheinlich nie gehört hat). Es ist klassisch kraft einer gewissen ewigen und nicht kleinzukriegenden Frische.

*

Unwissende Männer von Genie entdecken ständig „Gesetze“ der Kunst wieder, die die Akademiker verlegt oder versteckt hatten.

Jede allgemeine Aussage ist wie ein Scheck, den man auf eine Bank ausstellt. Sein Wert hängt davon ab, inwieweit er gedeckt ist.

*

Eine allgemeine Aussage ist nur wertvoll, wenn sie auf die bekannten Gegenstände oder Tatsachen bezogen wird.

*

Literatur ist Sprache, die mit Sinn geladen ist. Große Literatur ist einfach Sprache, die bis zur Grenze des Möglichen mit Sinn geladen ist.

Literatur ist Neues, das neu bleibt. Mein Interesse an dem Ta Hio des Konfuzius oder dem Homerischen Gcdichtwerk zum Bei' piel kann nicht erlöschen.

*

Der Kritiker, der keine persönliche Feststellung trifft über seine eigenen Maßstäbe, ist einfach ein unzuverlässiger Kritiker. Er ist kein Maßgebender, sondern einer, der die Resultate anderer wiederholt.

*

Gute Schriftsteller sind solche, die die Sprache wirksam erhalten.

(Aus Ezra Pound, „Abc des Lebens'. Deutsch von Eva Hesse, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main.)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung