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Aus der Schau des Jahrhunderts

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DEUTSCHE GESCHICHTE IM LETZTEN JAHRHUNDERT. Von Paul Sethe. Verlar Heinrich Scheffler, Frankfurt am Main 1960. 456 Seiten, 8 Kartenskizzen. Sonderausgabe als „Das moderne Sachbuch, Band 51“, Preis DM 14.80.

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DEUTSCHE GESCHICHTE IM LETZTEN JAHRHUNDERT. Von Paul Sethe. Verlar Heinrich Scheffler, Frankfurt am Main 1960. 456 Seiten, 8 Kartenskizzen. Sonderausgabe als „Das moderne Sachbuch, Band 51“, Preis DM 14.80.

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1962 erschien Paul Sethes „Geschichte der Deutschen“ („Die Furche“ 47/1962), die eine beachtliche Umschreibung der Geschichte brachte. Die jetzt vorliegende „Deutsche Geschichte im letzten Jahrhundert“ beginnt 1848 und befaßt sich mit dem letzten Drittel der „Geschichte der Deutschen“. Da Österreich bis 1866 dem Deutschen Bund angehörte, von 1879 bis 1918 als Österreich-Ungarn mit dem Deutschen Reich verbündet war und als Republik 1938 diesem einverleibt wurde, sind seine Geschicke vielfach mit der deutschen Geschichte verknüpft. Der Autor ist Journalist und „will nicht in Wettbewerb mit den gelehrten Darstellungen treten“, er ist weniger Geschichtsschreiber als Politikphilosoph, indem er spekulative Nachbetrachtungen anstellt „aus der Schau des Jahrhunderts — in den Augen der Nachwelt — mit der Weisheit des Nachlebenden“. In dankenswerter Weise regt er zu abgeklärtem Überdenken des Gewesenen, zu einem gerechten Abwägen der Motive der geschichtlichen Persönlichkeiten an und versetzt jedes Geschehen in die Wenn-, Hätte- oder Wärebetrachtung. Er übt allseits herbe Kritik, ohne hierbei sein auf richtiges Bekenntnis zum Nationalstaat, daher zur „deutschen Einheit“, zugleich auch zum deutschen Patriotismus zu verbergen. Die Betrachtungen gruppieren sich um Bismarck als „Werkzeug des Weltgeistes“, der das ganze Buch beherrscht, um Wilhelm II. als dem „Verhängnis“ der Deutschen und um Hitler, hier mit deutlicher Distanzierung, da er „kein Preuße“ war. Paul Sethe hat bemerkenswerte, wenn auch nicht immer ganz konsequente Meinungen über die Grundfragen von Krieg und Frieden: er hält die Macht als solche und die Übermacht der Zahl im Kriege für stets entscheidend; er verurteilt es, daß die Politik im Deutschen Reich 1914 dem Militär den Vorrang eingeräumt und die Verletzung der belgischen Neutralität zugelassen hat; er glaubt an die Untrennbarkeit von Bündnis und Zwang zum Krieg, obwohl Italien und Rumänien 1914 neutral blieben; er lobt die preußische Politik in Olmütz 1850, die lieber vorübergehend zurückwich, als einen aussichtslosen Krieg zu beginnen.

Noch ein Wort über Österreich: es dürfte problematisch sein zu sagen, daß sich im Zweibund Berlin von Wien hätte in Lebensgefahr drängen lassen, denn dasselbe könnte auch umgekehrt behauptet werden — wo bleibt aber dann der Wert eines Bündnisses? Einen gewissen Widerspruch bedeutet ferner die Feststellung, das Deutsche Reich habe seine Lebenskraft bewiesen, da sich seine Wehrmacht 1914 bis 1918 vier Jahre lang gegen Übermacht halten konnte, Österreich-Ungarn aber habe als Vielvölkerstaat zwangsläufig zerfallen müssen. Die Frage liegt nun nahe: Wieso konnte seine Wehrmacht die gleiche Probe unter noch viel schwierigeren Verhältnissen bestehen? Die Auflösung Österreich- Ungarns darf nicht bloß aus dem Blickwinkel des Nationalitätenproblems ohne Verbindung mit der militärischen Niederlage der Mittelmächte untersucht werden. Für Kaiser Franz Joseph I. und die Habsburger findet Sethe objektive und sachliche Würdigung, wie er überhaupt trotz der vereinzelten Einwände als scharfsichtiger und geistreicher Geschichtsbetrachter unbedingt Beachtung verdient und viel gelesen werden soll.

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