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Canterbury - Stadt der Pilger

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„Barfüßig und weinend“ kam König Heinrich II. — als erster einer langen Reihe von königlichen Pilgern — im Jahre 1174 nach Canterbury zum Altar des heiligen Thomas Becket, des Märtyrererzbischofs, der in seiner eigenen Kathedrale ermordet wurde.

Der König hatte allen Grund zur Buße, denn seine eigenen, im Jähzorn hervorgestoßenen Worte „Will mich denn niemand von diesem aufrühreirischen Priester ''befreien'?“ waren“'es gewesen', 'die'zu der schrecklichen Tat jenes Abends des 29. Dezember 11'70 geführt hatten. Sie bewirkte jedoch — Ironie des Schicksals — genau das Gegenteil dessen, was der Mörder beabsichtigt hatte; denn die Spannungen zwischen dem König und dem Erzbischof waren durch Heinrichs Entschluß entstanden, die Jurisdiktion des Königs über die Gesetze und Gerichtshöfe der Kirche zu erweitern, und diese Spannungen waren nun mit einem Mal gelöst, weil der König, vom Grauen gepackt, sofort von seinen Absichten ahließ. Um seine Reue aller Welt offen zu bekunden, legte er die letzte Strecke seiner Reise zum Schauplatz des Mordes und zur Stätte seiner Selbstkasteiung — die anderthalb Kilometer vom Dorf Harbledown nach Canterbury — zu Fuß zurück. Auch heute noch kann der Besucher von Canterbury diesen Weg einschlagen.

Der Altar des St. Thomas wurde im Mittelalter das Ziel von Pilgern aus ganz Europa, und der „Pilgrim's Way“, der sich durch die grünen Lande der Grafschaften Surrey und Kent schlängelt, ist noch immer klar erkennbar; selbst auf den verwitterten Stufen der Kathedrale haben die vielen Füße der Pilger ihre Spuren hinterlassen.

Diese Pilgerfahrten erreichten Ende des 14. Jahrhunderts ihren Höhepunkt, zu der Zeit, da Chaucer seine „Canterbury Tales“ schrieb, eine der frühesten und beliebtesten Dichtungen in englischer Sprache. In den „Tales“ zeichnete Chaucer ein anschauliches Bild der Pilger, „wel nyne and twenty“ aus der Pilgerschar: Hochgeboren und niederen Standes, hciligmäßig und voll menschlicher Schwächen, hatte jeder dieser Pilger' gelobt, zwei Geschichten zu 'erzählen, zum Zeitvertreib auf dem langen Weg nach Canterbury.

Doch der Mord an St. Thomas und die nachfolgenden Pilgerfahrten gehören einer relativ späten Epoche in der frommen Geschichte Canterburvs an, denn diese Stadt ist die Wiege des Christentums in England: In die einstige Hauptstadt der Könige von Kent kam im Jahre 597 der heilige Augustin mit dem Auftrag, England das Christentum zu bringen.

St. Augustin war nicht der einzige seines Glaubens in diesem heidnischen Land, denn die Königin Bertha, Gemahlin König Ethelberts von Kent und Tochter Chariberts, des Königs der Franken, war bereits Christin, als sie in Kent eintraf. In ihrem Ehevertrag war vereinbart worden, daß sie im Königreich ihres Gemahls ihre Religion ausüben durfte, und König Ethelbert hatte ein von den Römern erbautes Gebäude für sie als Kirche ausersehen Dieses Bauwerk, die St.-Martins-Kirche von Canterbury, kann deshalb Anspruch darauf erheben, das älteste Gotteshaus Englands zu sein — sie hat die Stimme des heiligen Augustin vernommen und steht seit mehr als 13 50 Jahren ununterbrochen im Dienst Gottes. St. Martin trägt viele architektonische Merkmale aus den Zeiten der Römer und Angelsachsen, und in ihrem altehrwürdigen Taufstein wurde aller Wahrscheinlichkeit nach König Ethelbert nach seiner Bekehrung durch St. Augustin getauft.

Auch zwischen Canterbury und dem heiligen Franz von Assisi existiert ein direktes Bindeglied: das malerische, über einem Arm des Flusses Stour erbaute Häuschen der Franziskaner unweit des Stadtzentrums. Im Jahre 1224 kam eine Gruppe von neun Franziskanermönchen auf Anordnung des heiligen Franz nach Canterbury. Ihr Mönchskloster erbauten die Franziskaner 1267, und die Atmosphäre des Friedens und der Ruhe, die einen heute umfängt, wenn man von den oberen Fenstern auf die Gärten und den ruhig dahinfließenden Fluß blickt, hat sich seit den Tagen, da die Mönche aus den Fenstern ihres Dormi-toriums schauten, wohl kaum geändert. In einem der Räume des Erdgeschosses ist eine Falltür zu finden, unter der es senkrecht in die durchsichtige Tiefe des Wassers hinabgeht; vermutlich saßen die Mönche vor dieser Falltür und angelten Fische.

Der beste Ausgangspunkt für einen Rundgang durch Canterbury ist das aus dem 14. Jahrhundert stammende Westtor, dessen wuchtige Zwillingstürme ebenso wie die Türme seines Vorgängers auf so viele denkwürdige Schauspiele herabgeblickt haben. Durch dieses Tor schritt Heinrich II. auf seinem Bußgang nach Canterbury; fünfzehn Jahre darnach passierten es Richard Löwenherz und Wilhelm der Löwe, König von Schottland. Im Jahre 1376 war das Westtor Zeuge einer Szene, die vielleicht am eindrucksvollsten war: Der Trauerzug des ,,Schwarzen Prinzen“, des ältesten Sohnes' Eduards III. Und Siegers der Schlacht von Crecy und von Portiers, bewegte sich durch das Tor, und die sterbliche Hülle eines Nationalhelden wurde mit allem Prunk, dessen das Mittelalter fähig war, an ihre Ruhe-

Stätte in der Dreifaltigkeitskapelle der Kathedrale überführt.

Etwa seit 1400 diente das Westtor als Stadtgefängnis, und obwohl jetzt ein Museum für Rüstunge in ihm untergebracht ist, existiert noch immer die alte Zelle für die zum Tode Verurteilten. Vom Dach des Tors hat man eine herrliche Aussicht; der Blick schweift über die prächtigen „West Gate Gardens“, deren am Fluß gelegene Rasen- und Blumenanlagen den Besucher einladen, seine Entdeckungstour durch die Stadt zu unterbrechen und sich ein Weilchen auszuruhen.

Nachdem man auf den Spuren der Großen der Geschichte das Westtor passiert hat, kommt man zuerst zum malerischen St.-Thomas-Hospital — das teilweise über dem Fluß gebaut ist und einst eine Herberge für Pilger war — und dann durch die enge „Mercery Lane“ und das großartige „Christ-church Gate“ zum Domplatz der Kathedrale von Canterbury, eines der erhabensten und historisch bedeutendsten Bauwerke Großbritanniens.

Gleich beim Eintritt in die Käthedrale wird man von ihrem Zauber gefangengenommen, von ihrem herrlichen Ebenmaß, ihren Fenstern mit den leuchtenden frühen Glasmalereien, ihren Grabmälern und figürlichen Bildnissen der Toten, um die seit Jahrhunderten der Hauch des Friedens weht; man besucht die mittelalterliche Krypta und entdeckt schließlich im äußersten Ostteil der Kathedrale, in der Korona, den Marmorthron aus dem 13. Jahrhundert, auf dem jeder Erzbischof von Canterbury inthronisiert wird — zweifellos der „ancient marble seat“, auf dem Königin Elisabeth I. im Jahre 1573 während ihres Geburtstags-, banketts in Canterbury gesessen hat.

Außerhalb der Kathedrale sind die Normannische Treppe und der Wasserturm besonders interessant. Der „Water Tower“ ist ein sehr altes Bauwerk, das in früheren Zeiten die Mönche mit reinem, durch Rohre von den Hügeln hergeleitetem Wasser versorgte und mit dazu beitrug, daß sie in den Jahren des „Schwarzen Todes“ in dem Ruf standen, ifnttr *i gegen die Pest zu sein. Die „Norman Staircase“ führt heute zu einem Gebäude der berühmten „King's School“, einer pädagogischen Anstalt, die ein Nachkomme der im 6. Jahrhundert erbauten Klosterschule des heiligen Augustin ist und von König Heinrich VIII. neu gegründet und unterhalten wurde.

„St. Augustine's College Gateway“ ist nur wenige Schritte entfernt — auf dem Weg dahin kommt man an einem besonders schönen Teil der Stadtmauer vorbei —, und hinter dem College, auf dem Gelände der St.-Augustin-Abtei, die von Augustin (gemäß dem alten römischen Gesetz gegen Bestattungen innerhalb von Stadtmauern) außerhalb der Mauern von Canterbury errichtet worden war, finden zur Zeit Ausgrabungen statt. Hier ruhen St. Augustin und neun Bischöfe sowie König Ethelbert und Königin Bertha. Mehrere dieser Gräber sind jetzt freigelegt worden.

Canterbury hat enge Bindungen zu Frankreich, denn zur Zeit der Religionsverfolgung in jenem Lande kamen viele Hugenotten in die Stadt. Das zeigt sich auch an den Namen einiger Geschäfte wie LefeVresfc urrd^ Petit. Durch königlichen Erlaß wurde den Hugenotten gestattet, die Krypta der Kathedrale als ihre Kirche zu benutzen, und an jedem Sonntag wird noch heute in der Kathedrale ein Gottesdienst in französischer Sprache abgehalten. Die Hugenotten führten in Canterbury die Webkunst ein, und eines ihrer Zentren war das reizende, alte „Haus der Weber“ in der High Street, gegen dessen Mauern die Wellen des Flusses plätschern.

Ein idealer Tagesabschluß nach einem Rundgang durch Canterbury wäre eine Fahrt im Ruderboot auf dem Fluß, vorbei an der Black Friars Church, in der einst Daniel Defoe gepredigt hat. Hier herrscht wahrer Friede; lediglich das Eintauchen der Ruder ins klare Wasser ist zu hören, und beim „Haus der Weber“ angelangt, kann man aussteigen und im Garten am Fluß Tee trinken. Dort erweckt die Nachbildung eines alten Tauchschemels für zänkische Weiber immer wieder das Interesse der Besucher. Der Schemel trägt die Inschrift: “No brawling wives, no furious wenches. no fire so hot, but water quenches.“ (Keine keifenden Weiber zu hitzig und keine wütigen Dirnen, kein Feuer zu heiß, als daß nicht Wasser die Glut löschte.)

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