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Das Ende einer Tragödie

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Im Laufe des Monats Oktober werden, wie Prager Blätter berichten, die letzten Deutschen die tschechoslowakische Republik verlassen haben. In nüchternen Worten verzeichnet diese Meldung das Ende einer Tragödie eines Dreieinhalbmillionenvolkes. Übertragen auf die Verhältnisse anderer Länder würde dies bedeuten, daß die Schweiz oder. Dänemark plötzlich aller Einwohner entblößt wäre. Bei solchen Vergleichen tritt die ganze Größe des Geschehens plastisch vor Augen.

Eine fast tausendjährige Geschichte hat mit Ende der Ausweisung ihren düsteren Abschluß gefunden. Uber die Kämme der Berge, die Böhmen umschließen, waren die Deutschen im Lauf vieler Jahrhunderte ins Land gekommen, gerufen durch die Herrscher, auch gelockt durch die wirtschaftlichen Vorteile, die sich hier ihrem Arbeitsfleiß und ihrer Tüchtigkeit boten. Wesentlich ha,tte sich das Antlitz des Landes durch ihr Dasein und ihre Arbeit verändert. Aus unwegsamen Waldgegenden wurde durch ihren Fleiß fruchtbarer Ackerboden, •aus der Erde holten sie die verborgenen Schätze, die den Reichtum Böhmens begründeten. Neues Recht braditen sie ins Land, Bürgertum und Städtewesen und damit zusammenhängend Handel und Gewerbe blühten durch sie auf. Deutsche waren es, die in manche Gegenden des Landes als erste das Christentum brachten. Hohe Wissenschaft strahlte von der Universität Prags, der ersten des alten Reiches, aus. Neue Industrien, die Böhmen weltberühmt machten, wie die Glas-, Porzellan-und Spitzenindustrie, wurden durch sie geschaffen.

Viele goldene Tage hatten die Deutschen im Land erlebt im Lauf der Geschichte — die Zeit Przemysl Ottokars IL, Karls IV., die Zeit der Donaumonarchie. Harte Heimsuchungen hatten sie über sich ergehen lassen müssen — die Hussitenzeit, den Dreißigjährigen Krieg. Die jetzige Katastrophe ist die größte und letzte, denn sie löscht das Sudetendeutschtum als Volk aus. Über die Kämme der Berge, über die ihre Vorfahren gekommen waren, fluteten sie wieder zurück und zerstreuten sich in alle Winde.

Kaum eine Stimme erhob sich im Land offen gegen ihre Vertreibung. Weder schützten die internationalen Marxisten ihre deutschen Genossen, noch tchechische Juden ihre deutschen Verwandten, noch tschechische Katholiken ihre deutschen Glaubensbrüder. Der Haß und — die Angst vor dem eigenen Blut ließen alle stumm bleiben. Nur wirtschaftliche Gründe wurden manchmal Zugunsten ihres Bleibens geltend gemacht.

Das schwere Schicksal ist sicher nicht ohne eigenes Verschulden über die Deutschen Böhmens gekommen. Immer wieder traf sie im Lauf der Jahrhunderte der Haß, der nicht nur seine Ursachen im Nationalismus und Brotneid gehabt haben kann, sondern auch in einer verfehlten Politik. Das letzte halbe Jahrhundert ist an soldien Fehlern überreich gewesen, zumal das letzte Jahrzehnt. Aber wo ist zwisdien Zweien eine Schuld, die ganz einseitig ist? Wie immer es sei — alle Anschuldigungen sollen verstummen angesichts der Größe des abgrundtiefen Unglücks, das die Heimatlosgewordenen getroffen hat. .

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