6647065-1958_30_12.jpg
Digital In Arbeit

Kitschkönig oder Monster?

Werbung
Werbung
Werbung

Es gibt Menschen, die in ihrem Dorf oder Städtchen eine erstaunliche Personalkenntnis besitzen. Sie wissen genau, wieviel Einfluß der Notar besitzt, wodurch die Macht des Bürgermeisters begrenzt wird, welche Schwächen der Totengräber aufweist, wieviel Land und wieviel Schulden der Gutsbesitzer hat und warum der Zahnarzt seine Tochter nicht dem strebsamen Rechtsanwalt zur Frau geben will. Sie wissen das und viel anderes mehr, und all diese personalen oder kausalen Zusammenhänge im Kopf zu behalten und ständig zu ergänzen und zu berichtigen ist eine erstaunliche, aber keine unglaubwürdige Leistung. Kann man sich aber einen Mann vorstellen, dessen Personalkenntnis sich nicht auf ein Dorf oder ein Städtchen erstreckt, vielmehr ein ganzes Land umfaßt, ein Land notabene, das von Männern und Frauen bewohnt wird, die vor viel-hundert Jahren gestorben und vermodert sind? Man kann es nicht, und doch gibt es so einen Mann. Sein Name ist oben zu lesen, aber wir sind nicht zu faul, ihn nochmals auszuschreiben: Paul Murray Kendall. Was Kendall über das England der späten Plantagenet und der frühen Tudors nicht weiß, das kann nicht sehr wissenswert sein. Dabei ist dieses Wissen nicht in dem verstaubten Winkel eines Gelehrtenkopfes vergraben, es sprudelt lebendig hervor und führt einem die Kontinuität englischer Geschichte, aber auch englischer Landschaft sehr klar vor Augen. „Da, diese Straße und Hecke, sie mag damals etwas weiter westlich geführt haben, aber nicht allzuviel ... diente den Bogenschützen des Königs als Deckung .. . und dort drüben, die Abtei, ja, man sieht nur die Turmspitze hinter grünen Hügeln, dort kam Buckingham zu York ... er hat einen langen Ritt hinter sich, sein Mantel ist staubbedeckt, übrigens ein kostbares Stück, vier Pfund hat man dafür bezahlt, die Pelzarbeit nicht eingerechnet, und man weiß ja, daß die nach dem Winter von 70 nicht billig war ...“

So present sind dem Verfasser all die Details der Geschichte eines Königs, den die Geschichtsschreiber der Tudors als ein Monster, Shakespeare als ein geniales Monster, und sehr späte Engländer, die auch in der Historie den „underdog“ nicht im Stich lassen wollen, als einen edlen König darstellen; sie sehen ihn nur in der grandiosen Schlußszene, wo er, auf einem weißen Schlachtroß, in den Königsmantel gehüllt und mit dem weithin sichtbaren Goldkreuz auf dem Helm, mit einer kleinen Schar von Getreuen durch die Masse des feindlichen Heeres strebte, um an Heinrich Tudor, den Widersacher, heranzukommen, was beinahe gelungen wäre, hätte ihn nicht ein ungetreuer Vasall in der Flanke angegriffen. Ja, so stark wirkt auch heute noch diese Gestalt des letzten englischen Königs, der noch persönlich in Schlachten gekämpft, nach, daß es in England einen Verein gibt, der sein Andenken pflegt und von den Schurken Shakespeares nur von „Richard III., unseren allergnädigsten Herren“, spricht.

Murray Kendalls Darstellung erweckt in uns den Eindruck, daß er mehr geneigt ist, an den edlen König, als an das Monster zu glauben. Es gelingt ihm, die vielen Widersprüche der Quellen in seiner Erzählung auszuschalten; nur dann und wann erliegt auch er ihnen. So erzählt er von Warwick: „Sein Genie war eine Pflanze, die nur in der Mittagssonne blühen konnte ...“. erklärt aber ein wenig später: „Er besaß tatsächlich kaum mehr als durchschnittliche Fähigkeiten und war auch verstandesmäßig wie gefühlsmäßig naiv.“ Das will sich nicht zusammenreimen. Solche Vergleiche sind im übrigen eine Schwäche des Buches. Es ist sprachlich gar nicht unschön, etwa von York zu erfahren, „daß er den Norden im Blut hatte“ und anderes mehr, aber man weiß oft nicht genau, was man sich darunter wirklich vorzustellen hat. Nachdem Murray Kendall uns also durch sehr viele Seiten auf das Bild des edlen Königs vorbereitet hat, tritt dann recht unvermittelt ein Bruch ein. Bis zu dem Augenblick, wo der Herzog von York, von dem verstorbenen König zum Protektor seines minderjährigen Sohnes eingesetzt, die Zügel der Regierungsgewalt ergreift, können wir ihm folgen. Als der Herzog aber dann den Knaben, den er als heilige Verpflichtung zu schützen und zu bewahren hatte, beiseite schiebt, glauben wir Bescheid zu wissen, und die Erklärung Murray Kendalls, daß er damit auf seine Art dem Andenken des Bruders zu dienen glaubte, „eines Bruders, der noch keinen Woodville-Sohn gezeugt“, will uns nicht einleuchten. Wir sind gegen diese Art von Pietät. Allerdings gelingt es dem Verfasser in einer im Anhang enthaltenen blendenden Analyse tatsächlich nachzuweisen,-daß es höchst fraglich ist, ob Richard HI. die beiden Knaben im Tower wirklich umbringen ließ oder ob die Verantwortung dafür nicht dem Herzog von Buckingham angelastet werden muß. Gewisse Stellen in der Beweisführung erregen im übrigen mehr unsere Neugier, als daß sie diese stillen. Wieso kann beispielsweise eine zahnärztliche Untersuchung des Jahres 1933 wahrscheinlich machen, daß die Knaben im Sommer 1483 umgebracht wurden?

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Richard III. weder ein Monster war, mit Shakespeares „gewillt, ein Bösewicht zu werden und Feind den eitlen Freuden dieser Tage“, noch der Edelkönig, als den ihn seine Bewunderer sehen möchten. Er war etwa genau so gut, listenreich, verschlagen, böse, edelmütig und heimtückisch, wie es seiner Zeit entsprach. Die aber sehr genau zu beschreiben und lebendig zu machen, ist das Verdienst dieser Arbeit.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung