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Schweizer Kolonisten in den Ostalpen

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Es war um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert, als Bergbauern aus dem Oberwallis in der Schweiz ihre lederbespannten Plachenwagen und die kleinen Herden, die sie vor sich hertrieben, den Alpenrhein herunterlenkten. Die Herren Graubündens wiesen diesen Bauern Land an. Aber es lag auf den höchsten Höhen und in abgelegenen Nebentälern, umrauscht von dunklen Wäldern und von den Winden der Gletscher, die ihnen nahe waren. Solches Land konnten auch die Herren Vorarlbergs und Tirols noch feilbieten, und so sehen wir, wie diese Wandergruppen die Grenzen zwischen Westalpen und Ostalpen überschritten und ihre Tätigkeit auch jenseits dieser Grenzen entfalteten. Wieder sind es, wie schon angedeutet, von allem Verkehr abgeschlossene, rauhe Täler, die sie zur Besiedlung zugewiesen bekamen. Der blaue Himmel und die nächtlichen Sterne standen ihren Hütten nah, die sie errichteten. Doch frühzeitig gruben sie alljährlich gewaltige Schneemassen ein, so daß die kleinen Fensterchen kaum mehr den Blick zu den gegenüberliegenden Hängen der engen Täler freigeben konnten, geschweige denn zu dem um diese Zeit häufig vergangenen Firmament, von dem wochenlang die Flok- ken rieseln konnten.

So einfach die blockgefügten, vielfach nur einräumigen Hütten waren, die den kinderreichen Bergbauern Unterschlupf gewährten, so waren ihre Besitzer doch reich zu nennen. Sie waren auf ihren weltabgelegenen Höfen „freie Walser”, sowohl ihrer Person nach wie auch in ihrem Besitz. Ihn hatten sie als „freies Erlehen” erhalten, wonach sie nur zu einem jährlichen „ewigen” Pachtzins verpflichtet waren —, im übrigen konnten sie auf ihrem Grund und Boden frei schalten und walten, also auch teilen, verkaufen und vererben. Von den mittelalterlichen Fronabgaben, wie dem „Fastnachtthum” und „Besthaupt”, konnte auf diesen Bergen keine Rede sein. Die Bauern besaßen auch da freie Abzugsrecht, wie überhaupt das freie Verfügungsrecht über ihre Person. Sie kürten sich selbst ihre Richter, also ihren Ammann und ihre Geschworenen. Diese geboten sodann über sie in allen Niedergerichtssachen. Nur beim Blutgericht hatte man sich an den Stab des Lehensherren zu halten. Ammann und Geschworene legten in eigener Vollmacht die Steuern fest und verteilten sie auf die einzelnen Berghöfe. Man überließ es also den Bauern, sich ihre Welt zu zimmern. Wenn aber Kriegsgefahr über das Land auf zog, erinnerte man sich ihrer: „Und ist das wir der selben lüte bedurfent in urluge dur unser not, so sölen si und alle, die uf den vorgenannten güter sizent, uns dienen inret- halb des landės in unser coste mit schilten und mit speren und mit ir liben.” (V. Kleiner, Urkunden zur Agrargeschichte Vorarlbergs, 1. Band, 1928.)

In Vorarlberg waren diesen Walsern nicht weniger als sieben Nebentäler zugewiesen worden und obendrein viele Plätze in oder über den Haupttälem, auf den Berggütern. So nahmen die Walser in diesem Land fast ein Viertel der Landesoberfläche ein. In Tirol verteilten sie sich nur sporadisch; aber sie gelangten auf diese Weise bis in die Umgebung von Innsbruck, wie O. Stolz an einem „Hainrich Walser” in Praxmar im Sellrain- tale nachweisen konnte.

Was’ hatte diese Bauern bewogen, ihre Heimat im Oberwallis zu verlassen und in den Ostalpen neue Herren und Heimaten zu finden?

Die politischen Verhältnisse der 13. Jahrhundertwende waren im Oberwallis durch weithinreichende Fehden gekennzeichnet. Die Herren drückten die Bauern. Obendrein ist zu vermuten, daß ein Klimaoptimum sich durch seine Temperaturerhöhung und Niederschlagsarmut auf das föhn durchrauschte „Sonnenland” Wallis ungünstig auswirkte. Der ohnehin karge, wasserarme Boden, der nur durch kunstvolle Bewässerungsanlagen Ernten und Futtervorräte gewährte, stellte, wie es Sagen andeuten, mehrfach seinen Dienst ein und führte dadurch in einem kinderreichen Bergbauernland zwangsmäßigrar Abwanderung. Das periodische Abwandern der „Landsknechte” allein konnte unter diesen Umständen nicht mehr genügen. Das Abwandem ward den Bauemfamilien dadurch leichter gemacht, daß ihnen die oben gesdiilderten Freiheiten gewährt wurden. Sie hatten sie größtenteils wohl, wie es die neuesten Forschungen erbrachten, kn Oberwallis nicht besessen.

Das „Walserrecht” war und galt überall gleich. In seiner Höhe ist es „Jus Hollandri- cum” am nächsten verwandt. Wie unter jenem flandrische Bauern durch den Bischof von Hamburg-Bremen in den norddeutschen Marschengebieten zur Kolonisation angesetzt wurden, um dem Meer durch ihre Deichbauten Land abzugewinnen, so waren hier die Walser auf geboten worden, in Alpengebieten, wo jeglicher Ackerbau ausgeschlossen war oder sich an den Grenzen seiner Ausbreitung befand, das Land dauernd dem Menschen dienstbar zu machen.

Darüber hinaus hatten sie im Notfälle Soldaten zu stellen. Diese Pflicht ist nicht geringzuschätzen, denn wir wissen über viele harte Mannesverluste in den Walserfamilien durch Kriegsdienst Bescheid. Die Waffenpflicht hatte auch ohne Zweifel die Freiheiten mitbestimmt. Für die weitere Geschichte waren jedoch diese, sosehr sie auch auf den einzelnen Müttern und Gattinnen lasteten, von minderer Bedeutung als die aufbauenden Leistungen der Landnahme. Das Schwert steht unter dem Pflug. Er ernährt, jenes fällt.

Die Landnahme war in ihren Leistungen großartig. Allerdings erfolgte sie ohne Pflug, und so kann obige Redensweise nur als sinndeutend aufgefaßt werden: die Leistungen dieser spätmittelalterlichcn Bauern waren gerade dadurch großartig, als sie ihre Landnahme ohne Pflug, will sagen ohne Ackerbau bewerkstelligten. Die Walserhöfe waren Viehhöfe; im Glockengeläute ihrer Herden klang ihr Reichtum und Besitz wider. Man hat diese Bauern daher kurz im Hinblick auf ihre Leistungen als Viehzüchter abgetan und damit ihre Fähigkeit begründet, in den abgelegenen Höhen der Alpen winters und sommers verbleiben zu können. Diese Kennzeichnung reichte zwar nahe an die Leistungen der Bergbauern heran, doch traf sie den Nagel noch nicht auf den Kopf. Diese Bergbauern mußten sich auf mehr verstehen als nur auf Weidebetrieb und Viehhandel, beziehungsweise auf die Milchwirtschaft. Wer In einem sechsmonatigen Winter mit dem Vieh den Berg bestehen wollte, mußte bereits mit der modernen Stallfütterung und Heuwirtschaft vertraut sein, und so sehen wir in den Walser Bauern mit Recht Vertreter neuer moderner Wirtschaftsmethoden, mit anderen Worten auch einen Beginn der neuen Zeit in dem konservativen, bäuerlichen Wirtschaftsgefüge der Jahrhunderte.

Die Sense war gleichsam an die Stelle des Pfluges getreten, und es ist nicht von ungefähr, daß in jener Zeit die Vervollkommnung der Sense zu unserer heutigen Ausführung erfolgte, gewissermaßen die Ausbreitung der Heuwirtschaft über die Berggüter und Almen der Alpen und Mittelgebirge und die Graswirtshaftsgebiete der meernahen Niederungen vorbedingend und vorbereitend.

Nachdem die Walser im Oberwallis für die Ausbildung dieser modernen bäuerlichen Wirtschaftsform besondere Kenntnisse erwerben konnten, berief man sie aus ihrer Heimat in die Südalpen wie in die Ostalpen. Dort gingen ihre Nachfahren zum Teil sprachlich und blutsmäßig in der umliegenden Bevölkerung auf; zum Teil aber erhielten sie sich relativ rein, so daß wir in mehreren Walsertälern Vorarlbergs noch alte Erinnerungen an das Stammland in Oberwallis in Sprache, Sitte und Volkstum feststellen können.

Man kann sich dieser kolonisatorischen Vorgänge der Walser in Vorarlberg und Tirol nicht erinnern, ohne damit auch auf die Härte der Bedingungen der spätmittelalterlichen Landnahme in den Alpen zu verweisen, für deren Meisterung die Walser Unternehmungen ein leuchtendes Beispiel sind. Was sich auf sie an Freiheiten übertrug, galt in gewissem Maße für alle spätmittelalterlichen Neulandgewinner in den Alpen. Der Arbeit mußte der Lohn entsprechen! Wir werden in der Naturbedingtheit der Freiheiten der Alpenbevölkerung den Schlüssel zur Würdigung ihrer Leistungen finden können wie zum Verständnis ihrer Freiheiten und der Dauerhaftigkeit ihres Bestandes.

Gleichermaßen aber beleuchten die geschilderten Vorgänge die alte und ewige Schidksalsverbundenheit unseres Kontinents.

Die Nachkommen der Kolonisten aus dem Oberwallis in den Ostalpen bilden in diesem Sinne ein lebendiges Zeugnis der Schicksalsverbundenheit der West- und Ostalpen.

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