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Von den Betyaren zu den Kollektivbauern

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Spärlich, aber doch, erfährt die Welt aus den von Ungarn kommenden Nachrichten von jener zweifachen Revolution, unter deren immer schwerer lastenden Folgen Ungarns Volk und Ungarns Land, die ungarische Landwirtschaft, jetzt zu leiden haben.

Nach der sowjetischen Besetzung wurde der Großgrundbesitz enteignet und unter den Bauern aufgeteilt. Nachdem drei Jahre vergangen waren, wurde auch das bäuerliche Eigentumsrecht vernichtet und die ganze landwirtschaftliche Produktion in Form von Kolchosen verstaatlicht.

Das unorientierte Ausland hat sozusagen bjs heute Ungarn als das Land der unermeßlichen Steppen („P u ß- ta“) und der ebensolchen aristokratischen Großgrundbesitze gekannt. Das Ausland wußte nichts um jene tiefgehende Umgestaltung, die, schon Jahrzehnte vor dem zweiten Weltkrieg, das Antlitz der ungarischen Gegend, insbesondere jenes der ungarischen Tiefebene, der einstigen Welt der „Pußta“, im landwirtschaftlichen Sinne geändert hatte.

Die große ungarische Tiefebene, jenes Gebiet, das von den Flüssen Donau und Theiß bewässert wird, war bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, das heißt bis zu Beginn der türkischen Eroberung, eines der reichsten und dichtest besiedelten fruchtbaren Gebiete Europas. Die Einwohnerzahl Ungarns betrug damals vier Millionen, mehr wie jene Englands zur gleichen Zeit. Während der Türkenherrschaft jedoch und infolge der durch mehr als zweieinhalb Jahrhunderte ununterbrochen geführten Kämpfe wurde die Tiefebene fast entvölkert. Ein Teil der Bevölkerung wurde aufgerieben, die Überlebenden flüchteten. So blieb auch der Boden unbebaut. Qi Dörfer verschwanden, aus den Äckern wurde Weideland, Wein- und Obstgärten gingen zugrunde, die Fischteiche versumpften, auch dort, wo die Flüsse aus ihren Betten traten und die Gegend überschwemm-

ten, entstanden ausgedehnte Sümpfe. Jegliches Leben und jegliche Kultur hörte auf zu bestehen. Eine verwilderte Nomadenwelt entstand dort, wo vorher reiches, blühendes Land gewesen. Es bildeten sich einzelne größere Ortschaften, Bauernstädte in der Pußta, in die sich der Rest der Bevölkerung zurückzog. Auf diese Weise haben sich Debrecen, Szeged, Kecskemet, Nagykörös, Väsärhely und andere erhalten, um nur die größten zu nennen.

Es hat einzelne Komitate gegeben, wo nach Vertreibung der Türken von den einstigen 156 Dörfern nur 14 geblieben waren, anderswo von 221 nur 20 oder sogar noch weniger. Der herrenlos gebliebene Grundbesitz dieser verschwundenen Gemeinden gelangte dann an Magnaten oder in den Besitz der übriggebliebenen Städte, deren Gebiet oft die Ausdehnung eines früheren Ko- mitats erreichte.

Auf diese Art wuchs zum Beispiel der Grundbesitz der Stadt Debrecen auf 200.000 Joch, derjenige Szegeds auf 160.000, Kecskemets auf 120.000, Nagykörös besaß 70.000 Jodi, Vasärhely 80.000. Auf dem Gebiet der berühmten Pußta Hortobagy, die mit ihren 40.000 Joch der Stadt Debrecen gehörte, haben bis in unsere Tage hinein zwölf Kirchenruinen den Standort der einstigen reichen Gemeinden angezeigt.

Die zusammengeschmolzene spärliche Bevölkerung konnte eine Fläche von dieser Ausdehnung nicht bebauen, ihr größter Teil blieb Jahrhunderte hindurch Weideland, mit den günstigen Voraussetzungen einer nomadisierenden Tierzucht. Riesengroße Pferde-, Rinder-, Schweine- und Schafherden bevölkerten diese Weiden, nur von ihren Hirten bewacht, die selbst das Leben der Nomaden führten. In der Blütezeit dieser Viehzucht wurden Mastochsen herdenweise zu den großen Viehmärkten in Wien, Augsburg, Nürnberg und auch aufdie Schlachthöfe vieler Städte im weiteren Ausland getrieben. Durch zwei Jahrhunderte war Ungarn ebenso die Fleischkammer Mitteleuropas, wie es später im 1 9. Jahrhundert zu dessen Getreidekammer wurde.

Die Verwaltung und Beaufsichtigung dieser ganzen Pußtawelt stieß infolge der ungeheuren Entfernungen und der weglosen Straßenverhältnisse auf schier nüberwmd- liche Hindernisse. So war es möglich, daß gerade in dieser verwilderten und verlassenen Gegend ein Menschentyp sich entwickelte und heimisch wurde, der sich unter dem Namen „b e t y ä r“ oder „s z e g k n y le- geny“ (das heißt armer Geselle) in den Annalen der ungarischen Tiefebene verewigt hat. Später bekam dieser Menschenschlag einen Zuwachs aus den Reihen des abenteuerdurstigen Hirtenvolkes und jener jungen Burschen, die vor der Erfüllung ihrer Militärpflicht in der kaiserlichen Armee geflohen waren und sich versteckt halten mußten. Diese griffen nun, wo sie konnten, die Herden an und trieben sie fort, stahlen Pferde und beraubten die Reisenden und Kaufleute, die Zwischen den großen Märkten unterwegs waren.

Im Laufe des Jahrhunderts begann es durch die schrittweise Wiederbesiedlung der Tiefebene und die Wiedererstarkung der öffentlichen Sicherheit langsam über der Herrlichkeit dieser freien Gesellen zu dämmern. Nach den stürmischen Jahren 1848/49, zur Zeit des Badischen Absolutismus, als sich die besiegte Honvedarmee auflöste, hielten sich viele ihrer einstigen Soldaten auf der Pußta verborgen und noch einmal lebte die betyär-Welt auf. In den fünfziger Jahren wollten sie sogar einmal Kaiser Franz Joseph anläßlich einer Reise durch die Tiefebene gefangennehmen...

Mit dem Ausbau der Eisenbahnlinien nach 1867, nach dem Ausgleich mit Österreich, begann sich das innere Leben Ungarns auf dem Gebiete der Wirtschaft und der sozialen Verhältnisse stoßartig zu entwickeln. Die großen Weideflächen der Pußta kamen unter den Pflug, und infolge dieser Ackerwirtschaft mußte sich die extensive, auf weidende Herden begründete Viehzucht in einen immer enger werdenden Rahmen zurückziehen. Zu Beginn des 20, Jahrhunderts blieben, fast schon zur Kuriosität geworden, nur hie und da vereinzelte Reste des einstigen Hirtenlebens der Pußta übrig: auf der Hortobägy bei Debrecen und in der Umgebung von Kecskemet.

Ebenfalls nach dem Jahre 1867 begann das Abziehen der landwirtschafttreibenden Einwohner der übervölkerten Städte der Tiefebene und damit die Wiederbesiedlung großer, bisher unbewohnter Gebiete. D i e großen städtischen Grundbesitze wurden auf kleinere Parzellen aufgeteilt und verpachtet oder verkauft: das Bauerntum, wie es damals hieß, ist dem Boden nachgegangen, es ist dorthin übersiedelt, wo es Boden erworben hatte.

Dieser Vorgang war es, der zur Entwicklung des sogenannten „tanyä“- Systems geführt hat, das auf dem ganzen Gebiet der ungarischen Tiefebene allgemein wurde. Und dies in solchem Maße, daß gut ein Drittel der landwirtschafttreibenden Bevölkerung, ja an vielen Orten 40 bis 50 Prozent, nicht irt den Städten oder Dörfern, sondern in den über die ganze Tiefebene verstreuten „tanyas“ (dem ungarischen Äquivalent des österreichischen Bauernhofes) lebte. Mit der wachsenden Zahl dieser Einzelgehöfte und der zerstreuten Neuansiedlung der Bevölkerung wurde auch die Umsiedlung der Behörden notwendig. Auch diese mußten den Pionieren der Tiefebene, den Begründern einer neuen Heimat, nachfolgen.

Dies alles bedeutete von 1867 bis zum Ende dės Jahrhunderts das Ausschwärmen von mindestens anderthalb Millionen Menschen und die Eroberung von vielen Millionen Joch Ackerland. Durch großangelegte Flußregulierungen der Donau, Theiß und ihrer Nebenflüsse wurden in kaum einem halben Jahrhundert der Landwirtschaft neuerlichesechs Millionen Joch Ackerland gewonnen und besiedelt.

In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann unter dem Druck der amerikanischen Wei- zenkonku rrenz die dritte große Umwälzung in der Landwirtschaft Ungarns und besonders der ungarischen Tiefebene, die bereits vor dem ersten Weltkrieg auf dem Gebiete intensiven Obst- und Gemüsebaues sowie der Geflügelzucht be-

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