Heimat finden in stürmischen Zeiten

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Taufe, Hochzeit, Scheidung, Begräbnis,Verlust des Arbeitsplatzes, Pensionierung ... Jeder Mensch muß mit positiven und negativen Ereignissen in seinem Leben irgendwie zurechtkommen. Rituale helfen dabei.

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Taufe, Hochzeit, Scheidung, Begräbnis,Verlust des Arbeitsplatzes, Pensionierung ... Jeder Mensch muß mit positiven und negativen Ereignissen in seinem Leben irgendwie zurechtkommen. Rituale helfen dabei.

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Alle Jahre wieder knallen die Sektkorken; wenn auch schon zu vielen das Christkind nicht mehr kommen mag, den Beginn eines neuen Jahres, wie den Beginn eines neuen Lebensabschnitts überhaupt, feiern immer noch die meisten Menschen. Ob Sonnenwende, die Geburt des Göttlichen Kindes oder Jahreswechsel, ob Geburtstag, Hochzeitstag, Berufsantritt, Pensionierung oder Begräbnisfeier - religiöse wie weltliche Fest-Rituale sind seit Menschengedenken verbunden mit Veränderungen, mit Wechsel und Wandel in Zeit und Person. "Ganz unabhängig vom christlichen Gedankengut geben vor allem solche großen, kollektiven Feste wie Weihnachten, Neujahr oder Ostern den Menschen Geborgenheit in der Gemeinschaft", betont Michael Winter, als NLP*)(siehe Kasten) Lehrer Spezialist für Rituale zur Förderung der individuellen Entwicklung. "Und auch die privaten Festtage, wie regelmäßig wiederkehrende Rituale überhaupt, sorgen für Heimat in der Zeit, für Vertrautheit und Rhythmus. Schon deshalb sind Rituale unbedingt sinnvoll und hilfreich."

Doch gerade die Jüngeren haben vielfach Probleme mit den althergebrachten, oft erstarrten Festgewohnheiten in der Familie. Statt Geborgenheit, geschweige denn Wandel zu spüren, fühlen sie sich nicht selten eingeengt, ja eingesperrt von den üblichen Gebräuchen. Und zugegeben, gerade ältere Menschen neigen nicht nur zu krampfhaft festgehaltenen Feiertagsgebräuchen, sondern oft auch zu einem extrem ritualisierten Lebens- und Tagesablauf, dem sie dann letztlich sklavisch unterworfen sind. Wenn nicht Punkt zwölf das Essen auf dem Tisch steht, gerät schon die Selbstsicherheit aus dem Lot. Aus Heimat in der Zeit, aus Vertrautheit und Rhythmus wird innere Leere und Versteinerung.

Mit Sinn füllen "Natürlich besteht auch immer die Gefahr, daß man in bigotter Weise das Ritual selbst als das Wesentliche betrachtet und dabei seinen jeweiligen Zweck und sein Ziel aus den Augen verliert", räumt auch der Fachmann Winter ein. "Denn eigentlicher Zweck eines jeden Rituals ist ja ein Wandlungsprozeß in der Person, eine Erweiterung ihres bisherigen Bewußtseinszustandes. Das gelingt selbstverständlich nur, wenn für die Beteiligten das Ritual von Sinn erfüllt ist."

Für den Sinn aber, unterstreicht auch der NLP-Tainer, für den Wert, den jemand einem Fest oder Ritual gibt, ist jeder selbst verantwortlich. Statt also die großen, kollektiven Feste einfach nur gewohnheitsmäßig und widerwillig mitzufeiern, weil "man" das eben so tut oder um der Kinder willen, empfiehlt es sich, diesen äußeren Gebräuchen auch einen individuellen, innerlichen Sinn zu geben. Wenn jemand zum Beispiel Weihnachten nicht mag, weil er selbst es als entleert oder heuchlerisch erlebt hat, dann kann er dafür neue Gestaltungsformen finden, indem er es in ein Ritual der Fülle und der Wahrhaftigkeit verwandelt.

Doch was eigentlich genau ist ein Ritual? Worin unterscheidet es sich von einfachen Gebräuchen und banalen Alltagsgewohnheiten? Der bekannte systemische Familientherapeut Onno van der Hart definiert in seinem bahnbrechenden Werk "Abschiednehmen, Abschiedsrituale in der Psychotherapie" Rituale folgendermaßen: "Rituale sind Schlüssel-Szenarien einer Kultur, mit ihr können Übergänge vollzogen werden. Sie zeigen die Ziele auf, die gewünschten Zustände und die Wege, auf denen diese verwirklicht werden können ... Rituale besitzen den Charakter von Dramen, wobei die Betroffenen zugleich ,Akteure' und Zuschauer sind." Schlüssel-Szenarien einer Kultur - die allermeisten unserer kollektiven Rituale reichen weit zurück, bis in die Frühgeschichte der Menschheit.

Mißbrauch Wobei viele unserer Feste, wie auch zum Beispiel Weihnachten, bekanntlich ganz bewußt von der Kirche verquickt worden sind mit viel älteren, heidnischen Feiertagen. Christi Geburt und das Neujahrsfest etwa mit der germanischen Wintersonnwendfeier zur Wiedergeburt des Sonnenkindes und den römischen Saturnalien, Ostern mit dem Fest der Vegetationsgöttin Ostera und ihres Sohngeliebten zur Wiederauferstehung der Natur. Sogar Stall und Krippe waren seit alters her der Fruchtbarkeitsgöttin geheiligt, also auch traditionell ein durchaus würdiger Ort zur Geburt eines Gottes. Und auch das Kreuz war ja ein uraltes Symbol für Wiedergeburt und ewiges Leben. Brot und Wein, Hirt der Herde und Opferung des Liebesgottes, ja, fast alle unserer christlichen Symbole und Rituale haben ihre Wurzeln in urzeitlichen Naturreligionen.

So sind also auch wir modernen Stadtnomaden in unseren Festgebräuchen immer noch viel tiefer mit unserer Frühgeschichte verbunden als wir vermuten mögen.

Andererseits flüchten immer mehr junge, aber auch zunehmend ältere Menschen vor solch einer Verbindung mit der menschheitlichen Frühgeschichte. Vor Weihnachtsrummel und Winterkälte etwa in die Karibik oder auf die Malediven. Überhaupt gilt Festverweigerung zunehmend als Zeichen individueller Freiheit. So sehr man die alten Feste vielleicht noch als Gelegenheit zur Familienversammlung nutzt, der religiöse Sinn ist vielen abhanden gekommen. Was vielleicht im Alltag kein großes Problem darstellen mag, doch angesichts größerer Umbrüche im Leben oft zu Ratlosigkeit führt.

"Jede besondere Lebenswende, wie Hochzeit, Geburt eines Kindes und auch der Verlust eines Angehörigen, benötigt Rituale, um die Zäsur bewältigen zu helfen", weiß Werner Horn, evangelischer Superintendent. "Rituale sollen Antworten auf die Sinnfrage geben. Oft jedoch wird, zum Beispiel bei Eheschließungen, die Zeremonie nur noch aus äußerlichen Gründen gewünscht, einfach um diesen Übertritt zu gestalten. Überhaupt fällt es ja den heutigen Menschen zunehmend schwerer, bedeutende Ereignisse in ihrem Leben zu gestalten."

New Age boomt Ein wesentlicher Grund dafür, geht der Seelsorger mit soziologischen Forschungen konform, liege sicherlich auch im manipulativen Gebrauch von Ritualen durch die Nazis. "Jede Art von Pathos ist durch den Mißbrauch der Nazis verständlicherweise für viele Menschen zutiefst verdächtig geworden. Das macht ihnen den Umgang mit der meist vom Alltag abgehobenen, symbolträchtigen Sprache von Ritualen überhaupt oft schwer." Außerdem scheinen die Schlüssel-Szenarien unserer christlich-abendländischen Kultur zunehmend zu verblassen, der Einfluß der traditionellen Religionen schwindet in unserer westlich aufgeklärten Welt. Immer mehr Menschen sind auf der Suche nach neuen, sinnstiftenden Denkmodellen.

Die boomende New-Age-Bewegung bemüht sich, an die ältere Bedeutung der vielen suspekt gewordenen christlichen Festzeremonien wieder anzuknüpfen. Statt Weihnachten feiern sie erneut die Mittwinternacht, zu Karneval treiben sie böse Geister aus, und monatliche Vollmondfeste stehen inzwischen ohnehin regelmäßig im Terminkalender. Vollmondevents werden mittlerweile schon ganz selbstverständlich von cleveren Tourismusleuten und Veranstaltungsmanagern in jeder größeren Stadt angeboten. Mondbücher, wie das von Johanna Paungger, erleben Rekordauflagen, der postmoderne Sinnsucher, vor allem die Sinnsucherin, bemühen sich (oft ziemlich krampfhaft), einen Weg zurück zu finden, zurück zu den kollektiven Wurzeln.

Ein Irrweg, fürchtet Adolf Holl, der durch seine provokanten Bücher bekannte katholische Expriester. "Alle unsere Rituale sind im Grunde ja Bauernrituale. 5.000 Jahre haben die Menschen mit den Jahreszeiten gelebt, nicht auf einem unumkehrbaren Zeitpfeil wie der moderne Mensch, sondern zyklisch. Weihnachten und Ostern haben auf sie gewartet, waren immer, man ging darauf zu. Heute sind nicht mal mehr fünf Prozent der Weltbevölkerung Bauern, und für den modernen Großstädter kann zyklisches Denken nichts anderes als Künstelei sein, fürchte ich jedenfalls."

Allerdings räumt der Theologe, wie auch viele Psychologen, immerhin den Frauen noch eine natürliche Beziehung zum zyklischen Erleben ein. Allein schon durch Monatszyklus, Gebärfähigkeit und Klimakterium sind sie ja dem Rhythmus von Werden und Vergehen unmittelbar verbunden. "Von den Frauen könnte durchaus eine Erneuerung des Religiösen kommen. Vielleicht haben ja die Frauen eine ursprünglichere Beziehung zum Rituellen bewahren können?" Es wäre, auch psychologisch, wünschenswert. Denn ohne wiederkehrende Feste, Gebräuche und Gewohnheiten geraten nicht nur die Kinder aus dem Gleis, sondern auch die Erwachsenen ins Chaos. Vor allem die systemischen Familientherapeuten der "Mailänder Gruppe" (die nicht mehr nur alleine mit einem einzelnen Klienten, sondern mit dessen gesamtem Umfeld arbeiten) haben deshalb seit den frühen siebziger Jahren begonnen, ganz gezielt Rituale zu Heilzwecken zu verwenden und auch zu entwickeln. Denn im Zusammenhang mit ihren Forschungen an Familien mit Alkoholproblemen wurde festgestellt, daß die Pflege sinnhafter Rituale einen hohen Stabilitätsfaktor für alle Familienmitglieder darstellt, auch in schwierigsten Situationen.

Vor allem aber bei Tod und Sterben brauchen selbst die meisten dezidiert nichtreligiösen Menschen die Sicherheit traditioneller Zeremonien.

"Es geht ihnen vor allem um einen Abschied in Würde", berichtet Superintendent Horn. "Doch besteht natürlich auch hier die Gefahr, daß nur die Äußerlichkeit des Rituals gesucht wird, es nicht innerlich mitvollzogen werden kann und damit seine heilende Kraft verloren geht. Das Ritual darf nicht isoliert werden, es muß den Menschen spürbar werden, daß sie in schweren Situationen von der Gemeinschaft nicht allein gelassen sind."

Magische Wirkung Weshalb das Zentrum für Seelsorge und Kommunikation einmal im Monat in der Stadtkirche einen Gottesdienst für Trauernde mit Möglichkeit zu anschließendem Gespräch abhält, sowie Seminare zur Trauerarbeit. Dabei geht es nicht nur um Tod, sondern um Verluste aller Art. Um Trennungen, Scheidungen, um Kinder, die das Elternhaus verlassen, um den Verlust des Arbeitsplatzes, um Abschied von einer Lebensphase überhaupt. Wir glauben, daß ohne Trauerarbeit, ohne unterstützende Rituale den Menschen ein Neubeginn sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich wird", sagt der Seelsorger.

Ein Aspekt, der auch in der Familientherapie immer stärker betont wird: eines der größten Hindernisse für die seelische Weiterentwicklung von Menschen stellen unabgeschlossene Trauer- und Abschiedsprozesse dar.

Jedoch vor allem bei Trennungen und Scheidungen fehlen in unserer Kultur hilfreiche Zeremonien. So hängen viele Menschen noch lange Jahre später voll Zorn und Haß aneinander, unfähig, ein neues Leben zu beginnen, weil sie die Trennung nicht wirklich vollzogen haben. Die amerikanischen Psychotherapeuten Kathleen Wall und Gary Ferguson haben deshalb in ihrem sehr nützlichen Buch "Rituale für das Leben" ein ganzes Kapitel empfehlenswerten Scheidungsritualen gewidmet.

Ein Beispiel für viele: Lillian, eine 45jährige Anwältin, schreibt alle ihre durch die Scheidung zerschlagenen Zukunftshoffnungen auf einzelne Zettel, um sie dann langsam und unter vielen Tränen zu verbrennen. Nachher zieht sie sich ein neues, eigens für den Abschluß dieser Zeremonie gekauftes Kleid an und geht mit ihrer Freundin zu einem melancholischen Abschiedsessen.

Natürlich läßt sich durch eine solche symbolische Handlung nicht einfach die Trauer um das Verlorene vermeiden, das ist auch gar nicht beabsichtigt. "Ein solcher Versuch der Bewußtwerdung und des Annehmens ist immer schmerzhaft", schreiben die Autoren, "selbst für Menschen, die eine Beziehung erleichtert aufgeben. Doch bei der Verarbeitung dieses Schmerzes kann es ihnen helfen, wenn Sie ihren Verlust durch besondere Zeremonien anerkennen." Denn Rituale wirken magisch, geheimnisvoll über das Unbewußte. Auch heute noch.

Die Autorin ist Lebens- und Krisenberaterin sowie psychologische Karriereberaterin, Kreativtrainerin und Schriftstellerin.

Information: Stichwort NLP NLP = Neurolinguistisches Programmieren: ein Psychotraining, das Elemente aus Gestalt-, systemischer Familien- sowie Hypnotherapie verbindet. Eingesetzt zur Steigerung des Selbstbewußtseins und Verwirklichung der ureigensten Ziele, wie auch zur Veränderung hinderlicher Verhaltensmuster und Erweiterung des Handlungsspielraums überhaupt.

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