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Die tägliche kalte Dusche

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Recht unauffällig begleiten Rituale unseren Alltag. In Krisenzeiten erweisen sie sich als wirkkräftige Lebenshilfen.

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Recht unauffällig begleiten Rituale unseren Alltag. In Krisenzeiten erweisen sie sich als wirkkräftige Lebenshilfen.

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Ist es der Ö3-Radiowecker, die Tasse Kaffee oder die kalte Dusche, mit denen für Sie frühmorgens der Tag beginnt? Oder erwachen Ihre Lebensgeister beim Zeitunglesen, nach dem Jogging oder während des Zähneputzens? Was auch immer jene kleinen Dinge sein mögen, die unseren Alltag tragen und prägen - sie zählen zu unseren ganz persönlichen Ritualen, die für uns nahezu unabkömmlich sind.

„Sie begleiten Individuen und Sozietäten bei Übergängen”, so beschreibt die Wiener Psychotherapeutin Dorothea Oberegelsbacher eine der wichtigsten Funktionen von Ritualen. Es können alltägliche „Übergänge” sein wie etwa das Verlassen des Hauses, eine Verabschiedung, eine Begrüßung oder Übergänge existentieller Natur wie Eheschließung, Berufswechel, Geburt und Tod. Rituale sollen eine Phase des Übergangs, die meist mit Unsicherheit, Unklarheit verbunden ist, erleichtern, indem sie den Menschen Handlungsweisen vorgeben.

„Rituale ersparen das Nachdenken darüber, wie ich mich in ganz bestimmten Situationen verhalten soll”, beleuchtet der Soziologe Reinhold Knoll eine andere Facette. „Sie sind etwas zum Anhalten.” Dies ist auf politischer Ebene, etwa beim Zusammentreffen von Diplomaten oder Staatsoberhäuptern aus verschiedenen Kulturkreisen, von Bedeutung; ebenso aber auch in kleinerem Rahmen wie bei einem Restaurant- oder einem Ballbesuch. Die jeweilige Etikette bildet den Rahmen dafür, daß sich Menschen relativ unmißverständlich bewegen und begegnen können. „Ich kann mich darauf verlassen, daß der andere meine Handlungen versteht”, erläutert Knoll.

Auch auf religiöser Ebene finden sich diese Beobachtungen bestätigt. Wie Hans-Peter Premur, Priester, Theologe und Rektor des Bildungshauses in St. Georgen/Längsee, aus Erfahrung weiß, „wüßten viele Menschen bei einem Begräbnis überhaupt nicht, was sie tun sollten, wenn es das Ritual nicht gäbe”. Ein Ritual wirkt lösend, es entlastet den Menschen in ungewohnten Situationen.

Daraus ergibt sich jene merkwürdige Ambivalenz von Starre, Festigkeit und Unbeweglichkeit einerseits, die in Übergangszeiten und unsicheren Situationen für Stabilität und Sicherheit andererseits sorgt.

Rituale wirken aber nicht nur auf ein Individuum, also „nach innen”, sondern haben auch Signalwirkung nach außen. Ein Händedruck signalisiert etwa die Bekräftigung einer Sache, ein Kuß deutet auf Frieden hin.

Beleuchtet man das Phänomen „Rituale”, so kann man zwischen individuellen und kollektiven Ritualen unterscheiden. Inhaltlich gesehen ist die Palette an Ritualen unübersichtlich weit gestreut und in allen Bereichen vertreten.

Es gibt religiöse Rituale verschiedenen Ausmaßes, die vom schlichten Kreuzzeichen bis zur Krankensalbung reichen. Die säkularen Rituale sind vielfältig: Zeremonielle und Empfänge zählen ebenso dazu wie gemeinschaftsinhärente Rituale in Sportclubs oder Sparvereinen. „Dem Ursprung nach stehen Rituale in religiösem Bezug”, weiß Reinhold Knoll. „In unserer Alltagswelt haben wir Als-Ob-Rituale entwickelt, die so gehandhabt werden, als würden sie religiösen Charakter besitzen”, so der Soziologe. Autofahrer, die bei jedem Abstellen des Wagens mehrfach kontrollieren, ob wirklich zugesperrt ist, halten beispielsweise ein striktes Ritual ein.

Inwieweit ist der Mensch auf Rituale angewiesen? Kann man auf Rituale verzichten? „Rituale sind wichtig, weil sie Identitäten stärken und bestimmen”, formuliert es die Psychotherapeutin Dorothea Oberegelsbacher. „Sie stellen für mich ein Grundbedürfnis dar, das der kulturellen, sozialen, psychischen und geistigen Seite des Menschen gerecht wird.” Man kann zwar auf gewisse kulturelle Rituale verzichten, weil man beispielsweise eine andere Identität gewonnen hat, so die Therapeutin. „Man wird das alte Ritual aber durch ein anderes Ritual ersetzen.”

Wesentliche Bedeutung von Ritualen liegt in ihrer kulturellen Funktion. Rituale können als Gefäß fungieren, stellt Oberegelsbacher einen Vergleich mit einer Blumenvase an. Blumen (Sinnbild für „Natur”) können durch die Vase (Sinnbild für die Form, das Ritual) in einen ästhetisch-kulturellen Bezug gebracht und nutzbar gemacht werden. So wie das Ritual des Tanzkurses einst der „Domestikation unseres Triebverhaltens” (Knoll) diente. Problematisch wird das Ritual, wenn Inhalt und Form nicht mehr übereinstimmen. „Wenn Rituale von Menschen vollzogen werden, die nichts mehr damit anfangen können, wird das Ritual zum Schauspiel”, meint Reinhold Knoll. In der vorweihnachtlichen Zeit stellt sich die Frage nach dem Sinn des von Handel und Wirtschaft so groß aufgezogenen Feierns. Den adventlichen Konsumwahn bezeichnet Knoll als „eine völlig säkularisierte Ritualisierung von sozio-ökonomischen Verhaltensweisen”.

Der Widerspruch zwischen starrer äußerer Form und Inhalt führte schließlich zur Diskreditierung und großräumigen Abschaffung der Rituale, um die Authentizität der Inhalte zu gewähren. Eine der Folgen: „In amerikanischen Universitäten gibt es einen Grundkurs darüber, was korrektes Verhalten ist”, macht der Soziologe auf die amerikanische Neurotik in der Geschlechterfrage, die aufgrund dieses Verlustes entstanden ist, aufmerksam.

Auch die christliche Tradition ist bedroht von dem Bruch zwischen Inhalt und Form. Viele Rituale werden nicht mehr verstanden, gelten als antiquiert und unzeitgemäß. Die Kirche ihrerseits, gefangen im Zeitgeist, scheint auf ihre Ritualität allzuoft zu vergessen. „Wenn aber die Kirche keine Rituale mehr anbietet, die den Menschen etwas bringen, dann suchen sie sich diese woanders”, macht Hans-Peter Premur auf den vielbesprochenen Exodus aus den traditionellen Kirchen und die Hinwendung zur Esoterik oder zu asiatischen Traditionen aufmerksam. Das Christentum ist „viel zu verbal und viel zu rational”, stellte auch die Indologin Bettina Bäumer vor einiger Zeit fest.

Innerhalb der Kirche wiederzuentdecken sind für Premur Rituale wie Aussprache, Reichte oder auch die Krankensalbung, die seiner Ansicht nach„völlig verkümmert” ist. Denn: „Rituale sind viel älter als intellektuelle Traditionen”.

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