Leben ohne Gottesdienst: Heiligung des Banalen
Was derzeit einzigartig scheint, hat es in der Geschichte immer wieder gegeben: ein Leben ohne gemeinsamen Gottesdienst. Über die Chance, durch die aktuelle Corona-Krise neue Formen der Spiritualität zu entdecken.
Was derzeit einzigartig scheint, hat es in der Geschichte immer wieder gegeben: ein Leben ohne gemeinsamen Gottesdienst. Über die Chance, durch die aktuelle Corona-Krise neue Formen der Spiritualität zu entdecken.
Die Fastenzeit im Jahr 2020 wird in Erinnerung bleiben. Abgesagte Gottesdienste weltweit, Priester, die die Messe alleine oder im Kreis einer ausgewählten Gruppe feiern, der Ausschluss der Gläubigen von allen sakralen Handlungen während der Kar- und Ostertage in Rom – all das wirft ein völlig neues Licht auf das Selbstverständnis kirchlicher Existenz.
Fast ist man geneigt, angesichts der beinahe unwirklichen Bilder von einer „Entzauberung“ zu sprechen: Als selbstverständlich erachtete Liturgien werden eingeschränkt, von der oftmals hochheilig gehaltenen Sonntagspflicht der römischen Kirche wird mit bischöflicher Autorität dispensiert. Damit leidet das für die religiöse Identität zentrale Kulthandeln der katholischen Gemeinschaft, das lebendige Identifizieren mit dem gottesdienstlichen Feiern wird damit zu einem Teil unmöglich. Nach Alternativen wird gesucht: Maßnahmen reichen von einer „Verlegung“ des Geschehens in die digitalen Welten des Internet, in Form von Radio- und Fernsehgottesdiensten bis hin zur privaten Andacht zu Hause oder dem stillen Gebet in Einsamkeit.
Zeiten ohne öffentlichen Kult
Was geradezu einzigartig klingt, ist bei genauerem Hinsehen jedoch keine einmalige Situation: Geschichtlich gesehen hat es Zeiten, zu denen ein öffentlicher Kultbetrieb nicht möglich war, immer wieder gegeben: In alttestamentlicher Zeit war dies etwa der Fall, als man in der „Babylonischen Gefangenschaft“ (597-538 v. Chr.) fernab der israelischen Heimat leben musste. Jahrhunderte später gab es solche Erfahrungen auch, als der Tempelkult in Jerusalem von mehreren Gruppen abgelehnt wurde. Die Gründe dafür waren vielfältig, oftmals mit politischen Motiven vermischt. Aber in der Forschung weiß man, dass die Opfer im größten Heiligtum selbst in antiken Zeiten nicht immer unhinterfragt waren.
Jene Gruppen, die diese gottesdienstlichen Feiern infolgedessen mieden, waren wiederum auf der Suche, wie sie ihr alltägliches Leben abseits der größeren Zusammenkünfte heiligen konnten. Das Ergebnis dieser Zeit waren etwa pharisäische Gruppierungen, die – mit einer ganzen Bandbreite religiöser Regelungen – versuchten, ihren Alltag ohne Tempelopfer auf Gott hin zu zentrieren. Diese Fokussierung auf Vorschriften hat jenen Gruppen in der späteren Geschichte oftmals den Vorwurf eines legalistischen Religionsverständnisses eingebracht, tatsächlich war es wohl das kreative Ergebnis eines Identitätsprozesses, in dem man nach Möglichkeiten suchte, den Glauben in konkreten Lebenspraktiken zu leben.
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