Juden bitten vorsichtig

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D ie Bibel ist Gottes Gabe an die Menschheit; das Gebetbuch unser Gegengeschenk an Gott. In seinen Entwicklungen und Veränderungen durch die Geschichte ist es auch eine Autobiografie des Volkes Israel und seiner Beziehung mit Gott. Zentral ist das Achtzehnbittengebet. Darin wird um das gebeten, was von allgemeiner Bedeutung ist. Wir beten "Gepriesen seiest Du, Herr unser Gott, der Gebete erhört.“

Stoßgebete z. B. bei schlechten Nachrichten gelten allerdings als anstößig, denn dann ist es ja schon etwas passiert. Auch eigennützige Bitten um Erfolg sind verpönt. Stoßgebete sind Glaube an einen Gott, der Ausnahmen von der Regel macht. Ist Gott aber nicht gerade Fundament der kosmischen Ordnung, der es uns ermöglicht, über uns hinauszuwachsen zu immer neuen Höhen der Nächstenliebe und Kreativität? So wirkt Gott in den Grenzen der Schöpfung, mit ihr und durch sie. Das Universum funktioniert nach unveränderlichen physikalischen Gesetzen, doch das Rahmenwerk bringt ständige neue, komplexe Systeme hervor. Gott steckt in der Veränderbarkeit, dem Neuen, der nie versiegenden Kreativität.

Was aber, wenn guten Menschen Böses widerfährt? Nach dem Schöpfungsbericht bestand das Tohu-wa-wohu, das Chaos, bereits, als Gott das Licht schuf. So weht Gottes ruach, Hauch, über dem Chaos; seine chesed, Güte, verwandelt es. Und der Mensch wird Partner seiner Schöpfung zur Gestaltung der Zukunft der Welt. Mit den Mitzwot, den Geboten, lädt Gott uns ein, die richtige Wahl zu treffen. So formuliert der jüdische Beter seine vorsichtigen Bitten an Gott und vermeidet konkrete Anlässe.

Das Gebet soll nicht Gottes Eingreifen erreichen, sondern unsere Einsicht stärken, was wir - in seinem Ebenbild - als Nächstes in Angriff nehmen sollen.

* Der Autor, Rabbiner, leitet das Abraham-Geiger-Kolleg in Berlin

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