Last-Minute-Bücher für ratlose Wähler

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Machbare Dummheit, gelebtes Trauma: Ein feuilletonistisches Feuerwerk von Robert Menasse und eine Ladung Fakten und Analysen von Armin Thurnher.

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Machbare Dummheit, gelebtes Trauma: Ein feuilletonistisches Feuerwerk von Robert Menasse und eine Ladung Fakten und Analysen von Armin Thurnher.

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Ich las "Das Trauma, ein Leben" von Armin Thurnher und mußte an "Weber's Demokritos" denken. "Weber's Demokritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen": Man konnte die 12 Bände, je zwei in einem Einband, vor dem Ersten Weltkrieg in den Bücherschränken ungezählter ohnmächtiger, über die Verhältnisse räsonnierender Bildungsbürger finden. "Weber's Demokritos" war jahrzehntelang ein Ventilbuch, das dem Bildungsbürger half, sich über die Herrschenden zu amüsieren und Dampf abzulassen. Was verbindet "Das Trauma, ein Leben" mit dem Werk des 1767 geborenen Carl Julius Weber?

Laut Brockhaus von 1855 ist er ein "witziger Skeptiker und scharfsichtiger Beobachter, der, sehr belesen, gern skandalöse Geschichtchen einstreut". Schlägt man ihn heute auf, gerät man in eine Suada vom Hundertsten ins Tausendste, einen Wortschwall, in den man an jeder Stelle ein- und aus dem man jederzeit aussteigen kann. Genauso liest sich Thurnhers Buch: Entlarvende Fakten, kluge Gedanken, boshafte Beobachtungen Seite auf Seite, etwas ermüdend, um ehrlich zu sein, doch wo man es zuschlägt, tut man es mit dem Gedanken: Wie recht er doch hat! Dasselbe dachten unsere frustrierten, Weber lesenden Urgroßväter: Wie recht er doch hat! Worüber sie sich königlich amüsierten, das hält man heute bestenfalls ein paar Seiten lang aus. Sollte unseren Urenkeln "Das Trauma, ein Leben" in die Hände fallen, wird es ihnen mit diesem räsonnierenden Dauerplausch ähnlich gehen. Ein paar Exemplare werden schon bis dahin überdauern. Trotz allem.

Denn immer öfter begegnet uns das aktuelle Buch, das nach zwei, drei Jahren im Altpapiercontainer landet. Der zu Ende gehende Wahlkampf hat etliche hervorgebracht. Wer wird das zehnte Buch über Jörg Haider noch anschauen, sobald das fünfzehnte erschienen sein wird, wer das neue Buch über Heide Schmidt in einem Jahr noch aufschlagen, selbst wenn das Liberale Forum wieder ins Parlament kommen sollte, was man als Demokrat nur wünschen kann? Wer redet in Deutschland noch von den 1998 vor der Bundestagswahl erschienenen Büchern von Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Oskar Lafontaine samt Christa Müller?

Bücher über die österreichische Befindlichkeit, umfassende Bloßstellungen einer Politik, deren Blößen weithin glänzen und Analysen ihrer Adressaten, haben es besser. Ihr Thema verblaßt nicht ganz so schnell, denn Österreich bleibt Österreich, und das ist eine noch viel gefährlichere Drohung als jene, die Alfred Polgar einst im Spruch "Wien bleibt Wien" erblickte. Die beiden Neuerscheinungen, von denen hier die Rede ist, handeln nicht von Politikern, die kommen und gehen, und Regierungsbildungskrämpfen, deren Vorwehen, was immer dabei herauskommen mag, in zwei Jahren niemandem mehr das Lesen eines Buches wert sein werden. Sie handeln von österreichischen Zuständen, die bleiben: "Das Trauma, ein Leben" von Armin Thurnher und "Dummheit ist machbar" von Robert Menasse. Letzteres ist eher nur ein Drüberstreuer: Alle Kapitel bis auf eines sind bereits in österreichischen Printmedien als Artikel erschienen. Leider erfährt man nicht, welcher wo. Die Autoren debattierten vor wenigen Tagen ohne gröbere Unstimmigkeiten in der mitternächtlichen Zeit im Bild über die zu befürchtenden unsäglichen Folgen eines unsäglichen Wahlkampfes.

Neu geschrieben hat Menasse nur "Das war die Zweite Republik". Sie ist, lautet die These, auf jeden Fall vorbei. Nach den Wahlen, meint er, werde ohne Zweifel "alles anders sein - selbst dann, wenn es bleibt, wie es ist." Menasse ist ein Autor mit einem guten Gedächtnis. Unangenehm für Franz Vranitzky, daran erinnert zu werden, daß er sich den gegen Gorbatschow putschenden Generälen mit einem Telegramm anschmiß - außer, es ist ihm schon alles egal. Ist es ihm vielleicht auch längst. Könnte er sonst im Aufsichtsrat eines Unternehmens bleiben, das österreichische Gesetze ignoriert, indem es systematisch Betriebsratswahlen verhindert? Menasse ist auch ein Meister der politischen Analyse anhand der Fehlleistungen von Politikern. Eine der schönsten des Jahres: "Bei den letzten Gemeinderatswahlen in Kärnten plakatierte die SPÖ: ,Frauen und Kinder zuerst!' - Zum erstenmal ... hatte eine politische Partei also mitgeteilt: ,Wir sind ein sinkendes Schiff!'" Oder, Originalton Löschnak in einem TV-Gespräch über den Wiener Karlsplatz: "Wegen der sich dort versammelnden Suchtgiftigen". Da hat sein Unbewußtes ausgespien, was die Menschen, die im Polizeijargon Giftler heißen, für ihn wirklich sind. Schön, wie Menasse rekonstruiert, was in Innenminister Schlögels Kopf vorgegangen sein könnte, als er den Begriff des "Schüblings" herausschob.

Auch die Floskeln der Politiker und ihre schiefen Bilder können verräterisch sein wie Fehlleistungen. Max Webers beliebter, aus dem Zusammenhang gerissener Satz von der Politik als "Bohren harter Bretter" kursiert auch in Deutschland, wird aber in Österreich überdreht, indem man einen Halbsatz anfügt, "der nicht von Max Weber, sondern angeblich von Heinz Fischer stammt. Dieser Halbsatz lautet: ,Und zwar mit Augenmaß!' Nun ist das Augenmaß die so ziemlich ungenaueste Methode des Maßnehmens, seit es Zollstock und Wasserwaage gibt. Hat damals, als die Sozialdemokratie sich und ihr Politikverständnis neu definierte, das Verhängnis begonnen, weil das metaphorische Motto war: ,So genau nehmen wir es nicht'?" Wie harmlos dagegen die Fußballer, wenn sie neue Begriffe prägen, "zum Beispiel: ,Wir haben uns gut aus der Atmosphäre gezogen' oder: ,Man soll bitte das Problem nicht hochsterilisieren!".

Österreich bleibt Österreich, indem es sich dem verweigert, was es sein könnte: "Hatte dieser Staat jahrzehntelang auf seiner Opferrolle in der Geschichte insistiert, so läßt er nun keine Gelegenheit aus, sich zeitgenössisch schuldig zu machen. Verfassungsbruch, Verletzung der Menschenrechte, Rassismus und Antisemitismus werden nicht mehr verschleiert, versteckt, heruntergespielt, sondern offen zum Prinzip stimmenmaximierender Politik gemacht": Stimmt das etwa nicht?

"Und wenn Österreich etwas Besonderes hatte, was es zu Recht von der Zeit vor den beiden Faschismen positiv ableiten und worüber es sich in seiner Eigenständigkeit gegenüber Deutschland und den anderen Nachbarländern definieren konnte, dann war es, abgesehen von ein bißchen Architektur, der Sachverhalt, daß sich hier über Jahrhunderte mannigfache Völker, Kulturen und Sprachen vermischt und verschmolzen hatten - ach wie schön, schön war die Zeit, als wir vor den Augen der Großen diese Selbstinszenierung aufführten. Plötzlich aber wurde aus der österreichischen Promenadenmischung eine reine Boulevardrasse, die wütend ihre Überfremdung bekämpft. Und dies just in dem Moment, als Österreich antrat, an der nachnationalen Entwicklung unter dem Titel ,Europäische Union' zu partizipieren." Alles Tschechische hat die Boulevardrasse schon vor den beiden Faschismen verbellt, aber so genau wollen wir es nicht nehmen. Im Historischen wird ja Menasse leider oft ungenau.

Er ist der noch bessere Feuilletonist, der noch witzigere Formulierer, Armin Thurnher ist der bessere Analytiker. Zu vielen Themen, die Menasse streift, liefert er die genaueren Analysen, vor allem aber eine Fülle von Fakten. Er deckt den Leser geradezu ein mit Fakten. Zum Beispiel über den sowohl in quantitativer als auch moralischer Hinsicht ungeheuerlichen Einfluß der Boulevardpresse. Wie Österreichs Politik nach der Pfeife eines Tycoons tanzt, der - man denkt an weiland Mister Peachum, den ärmsten Mann von London - behauptet, keine Macht zu haben, keine zu wollen, das weiß kaum einer besser als Thurnher, und keiner belegt es gründlicher. Den Medien widmet er viel Raum - leider mit gutem Grund. An zweiter Stelle aber steht Haider. Ein köstliches Beispiel für dessen, milde gesagt, Dreistheit: Als Thurnher in der Erkenntnis, wie sehr die Medienpräsenz Haider nützt, beschloß, in seinem "Falter" keine Haider-Bilder mehr zu bringen, behauptete dieser, "er werde in seinen demokratischen Rechten beschnitten".

Doch wie der Inhalt von "Weber's Demokritos" läßt sich auch der von "Das Trauma, ein Leben" nicht einfach wiedergeben, außer mit dem Satz: Wie recht er doch hat! Ein breiter Strom von Fakten, Analysen und Schlußfolgerungen, wälzt sich dieser Text dahin, und was davon hängenbleibt, läßt sich auf den Nenner bringen: Wer Haider nicht gewählt hätte, wird ihn jetzt noch weniger wählen. Wer ihn fast gewählt hätte, wird es vielleicht doch nicht tun. Wem vor Österreichs derzeitiger Politik grauste, dem graust noch mehr. Wem angesichts mißbrauchter Medienmacht gruselte, dem gruselt noch mehr. Und er weiß jetzt noch besser, warum.

Zu einem Schluß verhelfen sowohl Menasse als auch Thurnher dem Leser: ÖVP und SPÖ haben mit ihrer eigenen jahrzehntelangen Anbiederei an die alten Nazis Haider das Feld bereitet und sich die Situation eingehandelt, die sie jetzt haben. Und immer mehr Anbiederei an das Denken, für das er steht, beschert ihnen nur immer mehr Haider - trotz oder gerade wegen der Ausgrenzung der Person. Denn da ist er der Schmied und sie sind die Schmiedeln. Zugleich dient sich Haider den Wählern aber als derjenige an, zu dem sie sich mit ihren vielleicht doch konkreten Zukunftsängsten flüchten können.

Wenn der kleine Mann eine Woche vor der Wahl "Zur Sache" sah, erfuhr er da nur, daß er die Ausländer aus rassistischen, mehr oder weniger irrationalen Gründen ablehnt. Kein Wort von dem, was der kleine, aber doch nicht dumme Mann ständig in den Wirtschaftsnachrichten hört: Daß immer mehr Unternehmen immer mehr Gewinne machen und dabei immer mehr Leute hinauswerfen. Den Wählern zu erklären, warum sie trotzdem keine Angst um ihre Arbeitsplätze zu haben brauchen, wäre vielleicht auch ein Konzept gegen Fremdenfeindlichkeit und Haider.

Da freilich paßten die Intellektuellen in "Zur Sache", da passen auch Menasse und Thurnher. Das Ökonomische bleibt unterbelichtet. Da wäre die Wahrheit halt von der Politik gefordert. Doch von der Noch-Koalition kommen dazu nur Schweigen und Leerformeln. Damit erzeugen die Regierenden das Image von Unglaubwürdigkeit und Lächerlichkeit, das Haider, der auch keine Rezepte hat, so schamlos ausnützt.

Das Trauma, ein Leben. Österreichische Einzelheiten. Von Armin Thurnher. Zsolnay Verlag, Wien 1999. 336 Seiten, geb., öS 248,-/e 18,02 Dummheit ist machbar. Begleitende Essays zum Stillstand der Republik. Von Robert Menasse. Verlag Sonderzahl, Wien 1999. 160 Seiten, brosch., öS 198,-/e 14,38

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