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Die Haydn-Hymne

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Unter dem Titel „Ton und Wort“ erschien unmittelbar vor Wilhelm Furtwänglers Tod, also gewissermaßen als Nachlaß zu Lebzeiten, eine Sammlung von Reden und Aufsätzen des großen Dirigenten. Unter diesen befindet sich eine bisher unbekannte Würdigung von „Hadyns deutscher Melodie“, der nach 1945 nicht wiedereingesetzten österreichischen Hymne, über die Wilhelm Furtwängler schreibt: „Joseph Haydn ist einer jener wenigen Großen, denen es vergönnt war, vollkommen zu ,sein, der er ist’, der eigenen Persönlichkeit freien und glücklichen Ausdruck zu geben und doch zugleich den Herzschlag, das Fühlen seines Volkes auszusprechen. Allein schon die •Schöpfung jener einen Melodie macht ihn unsterblich, die zuerst als österreichisches Kaiserlied, dann als sogenanntes .Deutschlandlied’ nicht umsonst die eigentliche und wahre Nationalhymne der Deutschen wurde, jener Melodie, die mir immer, von welcher Seite man sie auch betrachtet, als das schönste und vollendetste melodisch-musikalische Gebilde erschienen ist, das ich überhaupt innerhalb der gesamten Musikgeschichte kenne. Wahrhaftig, diese Melodie ist von ebenso vollendet ästhetischem Gleichmaß wie gedrängter Kraft, ist ebenso erfüllt von strahlendem Glanz und überquellender Wärme wie von urtümlicher Weite und Größe des Gefühls, und hat in der ihr eigenen Vereinigung von innerem Adel und großartigem, die Herzen höher schlagen lassendem Gemeingefühl nicht ihresgleichen. Und dennoch zeugt sie in jedem Ton von ihrem Schöpfer. Wahrlich glücklich, wer solches erfinden durfte, so offenbar ausersehen zum Gefäß göttlicher Gnade.

Freilich kann ein solches Gebilde nicht zu jeder Zeit erfunden werden! Wie es von seinem Schöpfer gedacht ist, sieht man an den Varia tionen, die Haydn darüber für Streichquartett schrieb, sehr deutlich. Die hochklassische Herkunft ist der Melodie nicht abzusprechen. Sie ist aus demselben Holz geschnitzt, wie jene ewige Menschheitsmelodie über die Freude, die Haydns größter Schüler einige Jahrzehnte später niederschrieb.

Im Sommer 1914, acht Tage vor Ausbruch des großen Krieges, stieg ich frühmorgens vom Sellajoch herunter nach Collfuschg. Der Talkessel von Corvara, der vor mir lag, war vollständig von Morgennebeln ausgefüllt, die von oben von der Sonne beschienen wurden. Da tönte mir plötzlich, gleichsam aus den Wolken — wie ich später erfuhr, gespielt von einem österreichischen Kaiserjägerregiment —, diese Melodie in aller ihrer Stille und riesig strahlenden Größe entgegen. Die Berglandschaft, die Sonne, die Melodie, alles vermählte sich, war gleichsam eins. Es ist kein geringer Prüfstein für eine Musik, wie sie sich in freier Natur ausnimmt.

Nie bin ich der Größe der Musik unmittelbarer innegeworden als damals.“

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