Qualle - © Michèle Ganserer, Leykam

Michael Stavarič: Simplifizierungen erzeugen nun einmal keine Komplexitäten

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Er habe die Erfahrung gemacht, dass sich Kinder gerne (und spielerisch) herausfordern lassen – sprachlich und visuell. Schriftsteller Michael Stavarič über Kinderliteratur und sein neues Projekt der Wissensbücher, in denen es um das große Ganze geht.

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Er habe die Erfahrung gemacht, dass sich Kinder gerne (und spielerisch) herausfordern lassen – sprachlich und visuell. Schriftsteller Michael Stavarič über Kinderliteratur und sein neues Projekt der Wissensbücher, in denen es um das große Ganze geht.

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Als ich vor Jahren begann, Kinderbücher zu schreiben, hätte ich selbst nicht gedacht, dass mich dieser Weg so weit führen und dass mich das Genre generell zu einem besseren Schriftsteller machen würde. Ich habe mich zunächst aus Lust und Laune darauf eingelassen, wohl um mir selbst zu beweisen, ich kann auch ein „passables“ Kinderbuch verfassen.

Was ein Kinderbuch alles umfasst, welche unglaubliche Wirkung es haben und wie es ganze Kindheiten (mit)beeinflussen kann, das hatte ich nicht auf dem Schirm. Ich wollte nur ein Buch kreieren, das ich selbst gern als Kind gelesen hätte. Und keinesfalls hätte ich gedacht, dass mir Kinder­literatur später tatsächlich wichtiger als Erwachsenenliteratur werden würde.

Wenn ich von Kinderbüchern spreche, dann meine ich in der Tat „Kinderliteratur“, die in Komplexität, Ästhetik, Poetik, Form, Inhalt etc. in keiner Weise einem Buch für Erwachsene nachsteht. Man darf nicht außer Acht lassen (und das scheint mir nach wie vor nicht in der Erwachsenenbelletristik angekommen zu sein), dass die Kinderliteratur einen Grundstein für jedwede spätere Lektüre darstellt. Kinderliteratur, die man später ein Leben lang bewusst in seinem Buchregal belässt, das ist Identitätsstiftung und Menschwerdung pur. Um solche Bücher werden Bibliotheken gruppiert und gebaut, sie sind die „Initialzündung“, die Basis einer persönlichen Lese- und Lebenssozialisation. Und ich garantiere – es wird sich dabei stets um eine Kinderliteratur handeln, die sich vom üblichen Mainstream abhebt.

Kinderbücher versus Kinderliteratur

Zweifelsohne werden allerdings viele Kinderbücher (die für mich dann keine Kinderliteratur darstellen) unter anderen Vorgaben produziert. In der Regel richten sie sich an eine bestimmte Altersstufe (beispielsweise „von drei bis fünf Jahren“), sie setzen meistens auf Verniedlichung bzw. auf etwas, was ich als „eindimensionalst“ erachte; sie weisen keinerlei ästhetische Qualität oder Dimension auf und changieren textlich förmlich zwischen, ja doch, Banalitäten und pädagogischen 08/15-Ansätzen.

Damit will ich nicht behaupten, dass sie allesamt entbehrlich und ausschließlich vernachlässigbar sind, doch Kinder­literatur sieht anders aus. Solche Titel werden einem weder im Gedächtnis bleiben, noch werden sie die Entwicklung (also etwa die Sprach- und Lesekompetenz, die Imaginationsfähigkeit, die Lust auf Vielschichtiges etc.) befördern.

Ich bin überzeugt davon, dass einen solche Kinderbücher später eben nicht zur ­Literatur/Kunst/Poetik/Wissenschaft etc. an sich führen – Simplifizierungen erzeugen nun einmal keinerlei Komplexitäten. Diese Kinderbücher sind Wegwerfprodukte, die keinen umfassenderen Wert haben. Ich weiß, dass mir einige sofort widersprechen würden und dass man das so nicht sagen darf und dass es sogar anmaßend ist, das zu behaupten, doch ist es mir egal.

Vielmehr erinnere ich mich an meine allererste Diskussion in diesem Kontext, wo man mir vorwarf, dass schwarze Tiere (Illustration) doch keinesfalls „kindergerecht“ seien und alle Tiere in Kinderbüchern bunt sein müssten. Und ich muss auch an das Gespräch auf der Buchmesse in Wien unlängst denken, wo man mich damit konfrontierte, dass es eine Frechheit sei, in einem Kinderbuch falsche Schreibweisen von Wörtern einzusetzen, gar sinnlose Nonsenswörter zu kreieren, die keiner verstehe, und dass so etwas Kinder nur noch weiter verwirre. Die Liste ähnlicher (latent feindseliger) Begegnungen (und sogenannter Gespräche) ist lang – Eltern, Lehrer(innen), Pädagog(inn)en, Kinderbuchautor(inn)en etc.

Kinderliteratur, die man später ein Leben lang bewusst in seinem Buchregal
belässt, das ist Identitätsstiftung und Menschwerdung pur.

Ich habe ein vollkommen anderes Bild von der Kinderliteratur – und wohl auch von dem, was man Kindern zumuten darf und soll. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass einem Kinder liebend gern auf Augenhöhe begegnen. Dass sie es schätzen, wenn sie mit komplexen Dingen konfrontiert und in einem gut dosierten Sinne überfordert werden. Dass sie sich gerne (und spielerisch) herausfordern lassen – sprachlich und visuell.

Nach all den Jahren im Kinderliteraturbereich bin ich nun einen nächsten logischen Schritt gegangen. Zwar hatte ich immer wieder einmal „Sachbuchthemen“ als Mini-Exkurse in meine fiktiven Kinderliteraturgeschichten integriert, doch hatte ich Kinderliteratur noch nie vordergründig in den Dienst der Wissensvermittlung gestellt.
Als ich damit begann, über die Buchreihe „Faszination“ nachzudenken, war da plötzlich der erste Satz: „Unendliche Weiten, unendlich viel Wissen, unendlich viele Möglichkeiten, etwas darüber zu erzählen“. Gemeinsam mit Tanja Raich (Leykam Buchverlag) und der Illustratorin ­Michèle Ganser habe ich eine, das wage ich mittlerweile zu behaupten, neue Art von Sachbuch entwickelt. Wissensvermittlung für Kinder, wie es sie in diesem Bereich noch nicht oft gab. Als hochwertigste Publikation (was Illustration und Herstellung anlangt), die zunächst vorgibt, sich mit einer bestimmten Tierart auseinanderzusetzen (bislang Krake und Qualle), doch begreift man schnell, es geht dabei um viel mehr.

In einem üblichen Kindersachbuch, das sich mit einer konkreten Tierart auseinandersetzt, würde man gewiss weder den Ton noch die Sprache noch den Inhalt erwarten, die hier auf unsere Leserinnen und Leser treffen. Um beispielsweise etwas über ein konkretes Meerestier auszusagen, muss man gleichzeitig über den Ozean an sich sprechen, und im gleichen Absatz eigentlich schon über die ganze Welt, und danach (oder davor) über den Kosmos, also über Physik, Biologie, Chemie, Medizin, Sprach- und Literaturwissenschaft, Geschichte, Bionik, Architektur, Kunst, Mathematik etc. Alles (so gut das geht!) muss präsent sein, um wahre Zusammenhänge aufzuzeigen. Alle Disziplinen und Themen dürfen miteinander verknüpft und vermischt werden. Man erzählt schließlich eine einzige große Geschichte, hält eine poetische Vorlesung, die unmittelbarst sogar konkrete Aufgaben (und verschiedene Lesarten) mit sich bringt; selbst vermeintliche Tabubrüche, wie die Aufforderung, ein in der Herstellung hochwertiges Kinderbuch anzumalen, etwas reinzuschreiben, ja selbst etwas auszuschneiden etc., es demnach zu personalisieren, mitzuschreiben und mitzu(be)denken, in einen Dialog zu treten, als wären wir alle zusammen im Kinderzimmer.

Für Kinder und Erwachsene

Ich bin überzeugt davon, dass sich dadurch ein großer Zauber entfalten, dass sich eine überwältigende Begeisterung entfachen lässt, die lange vorhält – und die einen anleitet, sich über alles Gedanken zu machen, denn nur so können wir die Welt (und uns) ansatzweise erfassen. Nur so wird Wissen lebendig, weil es eine Geschichte ist, der wir gerne lauschen wollen. Vollkommen egal, wie alt wir sind.

Ich wollte immer Bücher entwickeln, welche Kinder und Erwachsene als Literatur erachten – und die diese gemeinsam lesen, ohne dass sich wer dabei langweilt. Gemeinsame Lektüren vermögen vieles – nicht zuletzt ein gemeinsames Nachdenken, um unsere Welt in einen besseren Ort zu verwandeln. Um die Umwelt, die Würde, die Schönheit, die Natur und alle Lebewesen, ja selbst Sterne zu bewahren.

Ich glaube daran, dass uns Bücher in bessere (und empathischere) Menschen verwandeln. Dass das Lesen (und Nachdenken über sich selbst und die Welt) Gutes bewirkt. Und dass Kinder möglichst früh in jenes „große Ganze“ eingebettet werden müssen. Damit sie sich ein Leben lang mit anspruchsvollen Büchern (inklusive aller Künste und Wissenschaften etc.) umgeben, denn diese sind mächtige Verbündete, die allen Simplifizierern und Weltvereinfachern ein absolutes Gräuel bleiben.

Der Autor lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien.
2023 erschienen: „Das Phantom“ (Roman, Luchterhand), „Die Suche nach dem Ende der Dunkelheit“ (Gedichte, Limbus), „Faszination Qualle“ (Kinderbuch, Leykam).

Faszination Qualle - © Leykam
© Leykam
Literatur

Faszination Qualle

Geheimnisvolle Schönheiten
Von Michael Stavarič
Illustrationen von Michèle Ganser
Leykam 2023
144 S., geb., € 26,50

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