Highsmith - © Foto: Getty Images / Ulf Andersen

Patricia Highsmith: „Jedes Buch ist ein Streit mit mir selbst“

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Sie gilt als Meisterin der Beschreibung menschlicher Abgründe. Vor 100 Jahren, am 19. Jänner 1921, wurde Patricia Highsmith in Fort Worth, Texas, geboren.

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Sie gilt als Meisterin der Beschreibung menschlicher Abgründe. Vor 100 Jahren, am 19. Jänner 1921, wurde Patricia Highsmith in Fort Worth, Texas, geboren.

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„Jeder Mensch birgt in sich eine schreckliche andere Welt, höllisch und unbekannt“, schrieb Patricia Highsmith 1942 in ihr Notizbuch. „Es ist ein riesiger Abgrund, tiefer als die tiefsten Krater der Erde, oder es ist die dünnste Luft weit jenseits des Mondes. Aber es ist erschreckend, und es ist grundlegend anders als das, was dem Menschen von sich vertraut ist, also verbringen wir unsere Tage damit, am entgegengesetzten Ende unseres Selbst zu leben.“

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Welch höllische Welten in Menschen lauern, das war in den 1940er Jahren weltweit sogar sichtbar und tagtäglich zu erleben. Highsmith, die Kriege spätestens seit dem Spanischen Bürgerkrieg verachtete, thematisierte das in ihren zahlreichen Romanen und Erzählungen aber meist weniger politisch als vielmehr eher psychologisch, und zwar ziemlich raffiniert. In ihrem 1950 erschienenen Debütroman „Strangers on a Train“ („Zwei Fremde im Zug“) treffen zwei Männer zufällig aufeinander. Anfangs hält man den einen für einen bösen Verführer, den anderen für einen unschuldigen Kultivierten. Doch im Verlauf der Geschichte wird immer deutlicher, wie sehr beide Figuren miteinander verbunden sind.

Im ständigen Streit, aber auch in Zuneigung, als wären sie zwei Brüder. Oder als wären die zwei gar eine Figur, deren unterschiedliche Facetten man so zu sehen bekommt. In ihren berühmten und mehrfach verfilmten Romanen über den talentierten Mr. Ripley packte Highsmith diesen Dualismus dann sogar in eine Figur. Ripley ist beides in einem: kaltblütiger Mörder und kunstsinniger Mensch. Das eine schließt das andere nicht aus: Das ist die unheimliche Botschaft von Patricia Highsmith – und auch das entspricht den entsetzlichen Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Ripley ist beides in einem: kaltblütiger Mörder und kunstsinniger Mensch. Das ist die unheimliche Botschaft.

„Liebe und Haß, Gut und Böse [liegen] im Herzen des Menschen eng beieinander“, heißt es in „Strangers on a Train“, in dem die 29-Jährige bereits in nuce ihr Thema formte, „nicht etwa in verschieden starker Ausprägung je nach Charakter, sondern alles Gute und alles Böse war bei jedem vorhanden. Man mußte nur nach einem Zipfel davon Ausschau halten, um alles zu finden; es genügte, daß man ein wenig an der Oberfläche kratzte.“

An der Oberfläche kratzen

Patricia Highsmith kratzte gut und gerne an der Oberfläche. Für das bei Detektiv- und Kriminalromanen übliche Schema „Mord, Suche nach Mörder, Finden von Mörder und Festnahme“ interessierte sie sich „nicht im Mindesten“: „Ich glaube, das Prinzip des ‚whodone-it‘ ist eine dumme Art, sich einen Spaß mit Leuten zu erlauben.“ Spannung erhalten ihre Kurzgeschichten und Romane, an denen sie viel arbeitete, redigierte, strich und umschrieb, durch ein anderes Prinzip. Sie verstand es wie Edgar Allen Poe – der wie Patricia Highsmith an einem 19. Jänner geboren wurde, allerdings 112 Jahre vor ihr –, in einer vertrauten Welt das Unheimliche sichtbar zu machen.

Sie schätzte die Bilder von Francis Bacon und sah in ihnen das gemalt, was in der Welt geschieht: „Die Menschheit erbricht sich in eine Toilettenschüssel, und man sieht ihr nacktes Hinterteil.“ Es sind die Abgründe im Menschen, aus denen ihre Literatur die Spannung bezieht und die sie oft so gruselig machen. Das Unheimliche steckt aber nicht in erkennbaren Monstern, sondern in ganz normalen Menschen, denen man nichts Böses zutraut, die kultiviert, kunstsinnig und wertorientiert sind. Wie etwa der Architekt Guy, der im Zug zufällig auf Bruno trifft. Dieser redet ihm ein, er solle Brunos Vater ermorden. Er würde dafür Guys Ehefrau töten, von der sich dieser ja ohnehin scheiden lassen wolle. Das ergäbe das perfekte Alibi für beide. Guy ist entsetzt, stimmt selbstverständlich und empört nicht zu. Bald wird seine Frau aber tatsächlich ermordet, und die Dinge nehmen ihren Lauf. Auch weil Guy sie nicht stoppt.

Geschichte der Schuld

Der Roman „Strangers on a Train“ erzählt vor allem die Geschichte einer Schuld. Aber woher kommt die Schuld? Und wann beginnt sie? Als Guy einem Fremden von seinen Gefühlen und seiner Frau erzählt? Oder als er nicht zur Polizei geht, nachdem er hört, dass sie ermordet wurde? Oder erst dann, als er tatsächlich nach viel Drängen Brunos Vater umbringt? Vor allem die zweite Hälfte des Romans widmet sich ausführlich den Schuldgefühlen und dem, was sie auslösen. „Ich leide nicht genug!“, würde Guy manchmal gerne schreien. Nachts schreibt er Geständnisse und wird von Träumen heimgesucht, in denen ihm Bruno erscheint. Die Schuldgefühle zerstören auch die Beziehung zu Guys neuer Liebe. Was man mit Worten und Sätzen bewerkstelligen kann, zeigt Highsmiths großartige Beschreibung von Guys Gang zum Traualtar.

Da sieht er in allen Gesichtern, an denen er vorbeigeht, die Anklage, und mehr noch: In die Beschreibung seiner Schritte mischen sich Sätze, die ihn auf dem Weg zu seinem Mordopfer begleiteten. Selbst bei der Hochzeit ist also die Schuld anwesend – so wie Bruno „nicht zufällig und nicht für kurze Zeit, sondern alsGrund bedingung, als etwas, was immer gewesen war und immer sein würde“. Der irische Schriftsteller William Trevor bezeichnete die Literatur von Patricia Highsmith einmal als „das Reich der Schuld und der Wirkung von Schuld, der Angst und ihrer destruktiven Möglichkeiten, der Verstellung und Verzweiflung und Unruhe“. Das sind durchaus biblische Themen. Kain erschlägt Abel. Er beseitigt den eigenen Bruder, der stört. Er flüchtet, im Gepäck die Schuld, als Schutz ein Mal, und gründet eine Stadt. Vor der Stadtgründung war also der Brudermord, das eine ist vom anderen nicht zu trennen. Je länger man über diese biblische Geschichte nachdenkt, umso verstörender wird sie.

Aber jeder Mensch zieht seine Rüstung an, wenn er in die Welt hinausgeht, panzert sein Herz und sichert seinen Mund ...

Patricia Highsmith

Patricia Highsmith kannte die Bibel gut. Zahlreiche Spuren finden sich davon in ihren Werken, wohl auch diese Brudermordgeschichte. Man schaut mit ihren Figuren in den Spiegel und erkennt dort „für einen Augenblick den Mörder wie einen verborgenen Bruder“. Highsmith erzählt die Dualität des Menschen oft in der Verkörperung zweier Figuren, aber sie zeigt damit die Dualität, die jeder Mensch in sich trägt. Das ist die Erfahrung, von der Patricia Highsmith erzählt. „Aber es gibt immer zwei. Vielleicht ist diese wunderbare, magische, schöpferische, öffentliche & private Zahl das mystische Geheimnis des Universums. [...] So sehe auch ich die Welt.“ Jeder ist Kain und Abel zugleich. „Er kam sich fast vor wie zwei Personen“, heißt es in „Strangers on a Train“, „eine, die schöpferisch tätig war und sich dabei in harmonischer Übereinstimmung mit Gott wußte, und eine, die Morde begehen konnte.“ Diese erschreckende Einsicht möchte man instinktiv abwehren, wie es auch manche ihrer Figuren tun.

Einfacher ist es doch, den Feind außen zu erkennen und zu benennen, die Schuld bei anderen zu suchen, sich selbst aber gottesfürchtig und wertorientiert zu wähnen. Ehrlicher aber sind wohl die Einsichten, zu denen Patricia Highsmith mit ihrer Literatur begleitet. „Jeder war das, wogegen der andere sich entschieden hatte, das verworfene Ich, das jeder von ihnen zu hassen vermeinte und in Wahrheit möglicherweise liebte.“ 65 Jahre zuvor thematisierte Robert Louis Stevenson in „Der merkwürdige Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ die unheimliche Erkenntnis, „dass der Mensch in Wahrheit nicht einer, sondern in Wahrheit zwei ist“, und seine Figur Dr. Jekyll hält Folgendes fest: „Ich sage zwei, weil der Status meiner eigenen Erkenntnis über diesen Punkt nicht hinausgeht. Andere werden folgen, andere werden mich auf demselben Weg überholen, und ich wage die Einschätzung, dass man den Menschen dereinst als reines Gemeinwesen vielfältiger, nicht zusammenpassender und voneinander unabhängiger Bewohner ansehen wird.“

Scham und Verdrängung

In seiner Biografie „Schöner Schatten“ (Berlin Verlag 2003) erzählt Andrew Wilson, dass Highsmith bereits als Schulkind Karl Menningers psychiatrisches Sachbuch „The Human Mind“ gelesen hat. Menninger lehnte den Begriff „Normalität“ ab, thematisierte aber Homosexualität von Frauen als „Perversionen von Affekt und Neigung“. Lesbische Frauen galten damals gar als „monströs“. Kein Wunder, dass die lesbische Schriftstellerin ihren Roman „The Price of Salt“ („Salz und sein Preis“) 1952, also mitten in der McCarthy­Ära, nur unter Pseudonym veröffentlichte. Erst 1990 erschien der Roman unter dem Titel „Carol“ und unter ihrem eigenen Namen. Die Autorin thematisierte darin die Situation lesbischer Frauen, den Zwang zu Scham und Verdrängung. Monatelang er­ hielt sie nach Erscheinen des Romans Briefe von Leserinnen, die sich mit ihren Gefühlen alleingelassen und von der Gesellschaft ausgestoßen fühlten.

Gepanzertes Herz

„Schlimme Dinge entstehen aus der widernatürlichen Enthaltsamkeit, wie giftige Substanzen in stehendem Wasser: Fantasien und Hass und die verwünschte Neigung, mitfühlenden und freundlichen Handlungen böse Motive zu unterschieben“, schrieb Highsmith 1955 in ihr Notizbuch. Viele ihrer Erzählungen handeln von Sublimierung und Verdrängung, und Patricia Highsmith setzt dafür stets starke Bilder ein. Schnecken etwa, in der subtilen Erzählung „Der Schneckenforscher“ (in „Der Schneckenforscher“, Diogenes 2003, aber auch in „Ladies“, Diogenes 2020). „Fast jeder Mensch in dieser Welt ist stolz auf seinen scharfen Verstand, seine Großherzigkeit, seine Freundlichkeit, seine Klugheit, in der irrealen Unverletzlichkeit seines Arbeitszimmers“, notierte Highsmith 1940. „Aber jeder Mensch zieht seine Rüstung an, wenn er in die Welt hinausgeht, panzert sein Herz und sichert seinen Mund ... Im Herzen jedes Menschen sitzen Einsamkeit und Scham und Stolz.“

Joan Schenkar beginnt ihre Biografie über Patricia Highsmith (Diogenes 2015) mit den Worten: „Sie war nicht nett. Sie war selten höflich.“ Das ist in mancher Hinsicht wohl zu harmlos formuliert. Je mehr man über die Schriftstellerin liest, desto mehr erscheint ihr Schreiben als eine Verkörperung dessen, was sie wohl auch in sich spürte: Abgründe, Ablehnung, Vorurteile, Hass, Widersprüche, Gegensätze. Patricia Highsmith hielt sich selbst für liberal. Sie setzte sich für Umweltschutz ein. Sie verabscheute Kriege. Sie war mit Jüdinnen und Juden befreundet und schrieb eine Zeitlang über jüdische Kunst und Kultur. Aber: Viele der von ihr überlieferten Aussagen muss man als rassistisch bezeichnen, viele als antisemitisch. Highsmith fiel mit vehementen Beiträgen gegen Israel auf. Einige Äußerungen der Schriftstellerin sind absolut verstörend. Sie verachtete auch die Frauenbewegungen, die sie nicht zu brauchen meinte: Denn immer verdiente sie selbstständig ihr Geld. Im Herbst 2021 werden ihre Notiz­ und Tagebücher erstmals veröffentlicht. Tausende Seiten. Wer will, kann dann dieser widersprüchlichen Persönlichkeit nachspüren, ohne wie jetzt auf ausgewählte Zitate in den Biografien angewiesen zu sein. Patricia Highsmith ging in ihren Texten wohl auch den dunklen Aspekten der eigenen Persönlichkeit nach. Schreiben ermöglicht unter anderem, das Böse in eine Form zu bringen, mittels derer man sich damit dann auseinandersetzen kann.

Das Wissen, dass das Böse im Menschen ebenso werkt wie das Gute, zieht jedenfalls eine unübersehbare Spur durch ihre literarischen Werke. „Ich denke nie über meinen ‚Platz‘ in der Literatur nach, und vielleicht habe ich keinen. Ich betrachte mich als Unterhalterin. Ich erzähle gern eine faszinierende Geschichte. Aber jedes Buch ist ein Streit mit mir selbst, und ich würde es schreiben, auch wenn es nie publiziert werden sollte.“

Radio

Begegnung mit dem Bösen

Brigitte Schwens-Harrant über Patricia Highsmith
Gedanken für den Tag 18.–23. Jänner 2021,
jeweils 6.56 Uhr, Ö1

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