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Reformation am Eßtisch

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Hier sitzt der Doktor Luther, umgeben von seiner Familie, den Freunden und Mitarbeitern, Schülern und Studenten, und - nimmt sich kein Blatt vor den Mund, wenn es um Gott und die Welt, Christus und die Sünder, um Krieg und Frieden, Verdammnis oder ewiges Leben geht. Unermüdlich antwortet er auf alle Fragen, nichts erscheint ihm uninteressant: Saufen und Fressen, Leidenschaften und Verbrechen, Bischöfe und Huren, Kriegsgeschrei und liebliche Musik - alles ist wert, ein deftig Wörtlein dazu zu verlieren.

Aber nicht etwa deshalb, weil Luther eben ein auch für seine Zeit bemerkenswert ordinärer Mensch gewesen wäre, sondern weil er aus der Sorglosigkeit der Kinder Gottes spricht und den Heiligen Geist nicht als einen sprachlichen Mentor zimperlicher Betschwestern - „mit Züchten zu reden“ — erlebt hat.

Wenn der Geist Gottes in den Doktor Martin Luther fährt, dann läßt er ihn mit allen Sinnen verkündigen, was seinen Worten unverwechselbaren Duft und Würze verliehen hat.

Was immer er aber sagt, Zeitbedingtes oder für alle Christen zeitlos Gültiges, die geistige Verwandtschaft mit den Dichtern und Meistern der Sprache wie Shakespeare und Rabelais, Nestroy und Karl Kraus ist unverkennbar. Seine Tischgenossen werden wohl oft das erlebt haben, was man heute ein theologisch-literarisches Kabarett nennen würde.

Letztlich steht Luther aber damit in der Tradition der prophetisch-kritischen Rede Jesu Christi. Luther hat schließlich sehr bald erkannt, daß die Nachfolge Christi auch ein Sprachproblem ist, und sich ein Leben lang nicht gescheut, Anstoß zu erregen wie sein Herr und Meister:

„D. Martinus Luther ermahnte einmal einen Prediger, er solle nicht immer die Hochgelehrten ansehen,

sondern auf sich selbst und den normalen Menschen und darauf achten, daß er diese Leute richtig belehre: Man soll auf der Kanzel die Zitzen herausziehen und das einfache Volk mit Milch speisen. Denn es wächst alle Tage eine neue Kirche auf, die ganz einfach in der Lehre der Kinder unterrichtet werden muß. Darum soll man nur fleißig den Katechismus betreiben und so die Milch austeilen, aber die hohen subtilen und spitzen Gedanken und den starken Wein soll man für die ,Oberg’scheiten‘ aufheben.“

Wen wundert es da, daß Luther das „Nachtmahl“ Jesu Christi wieder biblisch gefeiert hat?

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