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Das Gewissen des Erasmus

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Im Herbst des Jahres 1518 hatte ein Reisender, der von Basel nach Löwen wollte, manche Zwischenfälle zu bestehen. Nach einer Fahrt in lästiger Sonnenhitze gab es in Breisach ein ungenießbares Frühstück: Brei, Knödel, ausgekochte Fische — während der Reisende, obwohl er aus Rotterdam stammte, auch die wohl zubereiteten Fische nicht mehr vertrug. Schon machte ihm, einem Fünfziger, sein „Körperchen“, wie er zu sagen pflegte, uni sich die Last zu erleichtern, vielerlei Not, und zehn Jahre war es schon her, daß er sich gewöhnt hatte, stehend zu schreiben, zu leben und höchstens nach der Mittagsmahlzeit ein wenig im Sessel einzunicken, abends aber mit Besuchern und Schülern auf und ab zu gehen. Nun mußte er in einem Dorfe, eingepfercht unter Menschen, gegen deren Andrang er sehr empfindlich war, warten, bis das Geschrei der Schiffer zur Weiterfahrt mahnte. In Straßburg gab es ein englisches Pferd, aber dieses war so erschöpft, daß es kaum bis Speyer trug; von dort ging es im Wagen weiter nach Mainz, dann wieder aufs Schiff bis Boppard. Hier wurde die Ladung auf Schmuggelware untersucht; der Reisende suchte die Zeit durch einen Spaziergang am Ufer auszufüllen. Hier wurde er erkannt und zum Zollbeamten, einem gewissen Christoph, geführt mit den Worten: „Da ist er.“ Der Zollbeamte freute sich über die Maßen; er lud den Fremdling in sein Haus, dort lagen auf einem kleinen Tisch unter Zollpapieren die Schriften des Gastes. Christoph rief seine , Frau, seine Kinder, seine Freunde, daß sie den großen Erasmus sähen. Als die Schiffsleute unten ungeduldig lärmten, schickte ihnen Christoph zwei Kannen Wein, und dann noch einmal zwei- Kannen; schließlich ließ er ihnen sagen, daß er ihnen das nächste Mal den Zoll erlassen werde, weil sie ihm einen solchen Mann ins Haus gebracht hatten.

Es war hochbewegte Zeit, ein Jahr, nachdem die Thesen angeschlagen worden waren, als Erasmus, der mit allen Fibern in seiner Zeit lebte, auf diese Weise unter den Fährlichkeiten der Reise von einem Widerschein seines Ruhmes erwärmt wurde. Der Ruhm ist ihm geblieben, so wenig er auch Feindschaft und geistige Gegensätze tilgen, Mißverständnisse auf heben konnte; es, war der seltene Ruhm unabhängiger geistiger Macht, die Erasmus in seinem Werk, aber auch in seinem Leben, seiner Haltung aufgebaut hatte. Wohl warf man ihm vor, daß er sich von dieser oder jener Partei bezahlen lasse; es war Verleumdung. Man schalt ihn unentschieden, zwiespältig, unaufrichtig, feige. Wenn aber jemals ein Wort zwischen den Parteien ein redliches Wort gewesen ist, so war es der Rat des Erasmus an Luther: „nicht gegen den römischen Papst, nicht anmaßend oder im Zorn zu schreiben, sondern die Lehre des Evangeliums aufrichtigen Herzens in aller Milde zu verkünden“. Wenige hatten die Mißstände des kirchlichen Lebens mit solcher Schärfe, solcher Ironie gekennzeichnet wie Erasmus; er tat es, gerade, weil er, wie er an Pirkheimer schrieb, von der Tradition der Kirche nicht abgehen konnte, noch jemals von ihr gewichen war. Aber bewundernswert ist die einsichtige Beharrlichkeit, mit der er versicherte, daß man „mit bescheidenem Anstand weiterkomme als mit Sturm und Drang“; daß man sich ein Herz bewahren müsse, das durch Zorn, Haß oder Ruhm nicht verdorben werden kann; daß es auch besser sei, zur rechten Zeit zu schweigen, als es mit falschen Heilmitteln zu versuchen; welche große Aufgabe es bleibt, „Lücken ausfüllen, abrupte Übergänge mildern, das Verwirrte ordnen, das Verwickelte entwirren, die Knoten auflösen, das Dunkle beleuchten“, endlich wieleicht wir im Unglück murren wider Gott, ohne daran zu denken, wie wir uns im Glück gegen ihn betragen haben. Er war durchaus gegen Aufruhr, Krieg und Gewalt und ließ sich niemals hinreißen, im Gegner nicht die diesem verliehene Kraft zu achten und sich zu bemühen, sie für die gute Sache zu gewinnen. „Schließlich ist es doch wohl christlich, Luther so wohl zu wollen, daß ich ihn nicht von den Parteien der Bösen unterdrückt sehen möchte, wenn er unschuldig ist; irrt er aber, so möchte ich ihn auf den rechten Weg gebracht, nicht vernichtet sehen, denn das paßt besser zum Beispiel Christi, der entsprechend dem Zeugnis des Propheten (Jes. 42, 3) den glimmenden Docht nicht auslöschte und das zerstoßene Rohr nicht zerbrach. Ich möchte wünschen, daß ein Herz, das gewisse edle Funken der evangelischen Lehre zu haben scheint, nicht stillgestellt, sondern zurechtgebracht und dann zur Verkündung der Ehre Christi berufen wird.“

Wer so dachte, war den Menschen nah durch seine Sorge, seine Erkenntnis und mußte ihnen doch fremd bleiben. Erasmus bezeichnete seine Stellung zur Welt in einem Briefe an Zwingli: „Ein Bürger der Welt zu sein begehr ich, allen gemeinsam, oder lieber für alle ein Fremdling.“ Leidend, erschüttert, aber nicht beirrt, durch ein Lächeln, eine witzige Schilderung sich über seine Leiden und die andern tröstend, weltoffenen Blickes, ein Gelehrter, dessen sich fort und fort ausbreitendes Wissen ihn mit der Wirklichkeit viel eher verband, als von ihr trennte, beobachtete Erasmus das Drama des Zeitalters; er zweifelte nicht, daß es eine Tragödie war, die sich begab, und ahnte furchtbare Folgen. Aber der Rat der Klugen, Gerechten, Versöhnungsbereiten, der leiderfahrenen Vermittler ist keine Macht in dem Augenblick, da die Wolken Zusammenstößen; er ist eine Macht auf Zeit und Zukunft; Leidenschaften herrschen über Einsichten, bis die Leidenschaften ausgebrannt sind und die ruhigen Worte der Einsicht wieder im Rechte stehen. Was war es, das Erasmus zum Ratgeber der Kirchenfürsten und Prälaten, der Könige, Reformatoren und Häupter und geistigen Beweger des Zeitalters machte, was ihn trieb, gegen alle Hoffnung auf Beherzigung, seinen Rat zu geben? Es war offenbar sein Gewissen, wenn er sich auch nicht mit dem Pathos des Streiters darauf berief. Wenn aber das Gewissen Weltautorität sein soll, so muß es die Welt im Gewissen haben; das Ganze des Bestehenden, Geoffenbarten und Überlieferten in seinem lebendigen Zusammenhang. Ein Gewissen dieser • Art lebte in Erasmus; es war die stärkste Kraft dieses scheinbar gebrechlichen und doch unbeugsamen Mannes, der die Freiheit der geistigen Existenz über alle Güter setzte, auch den früh erworbenen, früh durchschauten Ruhm. „Um keines andern Dinges willen“, konnte er am Ende sagen, „wünsche ich mir so sehr Glück, als darum, daß ich mich nie irgendeiner Partei angeschlossen habe.“

Er bedurfte dessen nicht, denn er stand mit fester Entschlossenheit auf dem Fels. Wie hätte sich auch dieses Gewissen bewahrt ohne den Glauben und die Erfahrung, daß die Kraft des Evangeliums die sittlichen Tugenden „nicht etwa aufhebt, sondern zur Vollendung führt“. Und so wird von einer gewissen Stelle an dieses fast unübersehbar reiche, in den mannigfachsten Bestrebungen sich ausgebende Leben einfach, klar, unerbittlich. Sein Leben ganz' Christus zu weihen, wünschte er mit vierzig Jahren in London. „Und inzwischen folgen wir Christus nach, aber von ferne“, schrieb er 1517 aus Löwen, „wie Petrus, da er noch schwach war.“ Zwei Jahre später legte er in Antwerpen das nie widerrufene Bekenntnis ab, das seiner Zeit — wie einer jeden —

zum Heil hätte werden müssen: „Das Best am Christentum ist ein Christus würdiges Leben.“

Die Forderung nach einem solchen Leben ist die dringendste des christlichen Gewissens; denn nur im Tun und Sein dessen,

was der Herr geboten, kann das Gewissen sich beruhigen und der Mensch in Frieden gelangen mit der Welt; ja er wird, wie Erasmus, ein zwar leiderfahrener und heimatloser, aber unbeugsamer Träger ihre armen Friedens werden.

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