Der Satiriker als Seher

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Er legte die Eier, die Martin Luther ausbrütete: Vor 550, 551 oder 548 Jahren wurde der Humanist Erasmus von Rotterdam geboren.

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Er legte die Eier, die Martin Luther ausbrütete: Vor 550, 551 oder 548 Jahren wurde der Humanist Erasmus von Rotterdam geboren.

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Ob der 550. Geburtstag des Erasmus von Rotterdam schon war, ob er heuer oder noch später zu feiern ist, bleibt ungewiss. Über das Jahr seiner Geburt (1466,1467, 1469?) streiten die Gelehrten, denen er selber zuzuzählen ist, und über die er sich in seiner satirischen Schrift "Das Lob der Torheit" dennoch lustig machte. Dabei ließ er sich vom biblischen Buch der Sprichwörter inspirieren, das er gleichzeitig parodierte. "Die Weisheit ruft laut auf der Straße, auf den Plätzen erhebt sie ihre Stimme: Wie lang noch, ihr Törichten, liebt ihr Betörung, gefällt den Zuchtlosen ihr dreistes Gerede, hassen die Toren Erkenntnis?"(Spr 1,20-22).

Was, wenn die Weisheit sich als Schalk verkleiden, ihr Gesicht mit einer Narrenkappe verschatten und ihre Stimme verstellen würde? Und sei es bloß, weil Moralreden selten gut ankommen und zudem schlecht vertragen werden. Und so legt Erasmus an einem Spätfrühlingstag anno Domini 1509 im Geist seine dunkle Mütze ab, entledigt sich des edelsteingeschmückten Rings und seines hermelinverbrämten Mantels (zu dessen Darstellung Hans Holbein d. J. seinen feinstbehaarten Pinsel benötigte), schlüpft ins Gewand des Possenreißers und stellt sich vor, welche Lehren die Torheit in persona dem Menschengeschlecht erteilen könnte, welches seit jeher leicht geschürzte Allotria der witwengrau gekleideten Weisheit vorzieht.

Die Torheit als Weisheitslehrerin

Die Torheit als Weisheitslehrerin - welch genialer Gedanke! Und damit auch die Begriffsstutzigen begreifen, worum es ihm geht, hilft ihnen Erasmus von Rotterdam mit einem einzigen kurzen Satz auf die Sprünge, der an den zitierten Vers aus dem Buch der Sprichwörter anknüpft: "Die Torheit tritt auf und spricht." Sie lässt der Denker jetzt denken und sprechen. Schon der erste Satz aus ihrem Mund lässt ahnen, dass das Zuhören sich lohnt. Als geschickte Rednerin setzt die Torheit beim Allgemeinen an: Allgegenwärtig, behauptet sie, sei sie im öffentlichen Leben, gehen doch selbst die scheinbar Weisen in unserer leidigen Welt an der eigenen Dummheit zugrunde! Wie etwa Sokrates, der immerhin wusste, dass er nichts wusste. "Während er im Wolkenkuckucksheim der Ideen herumphilosophierte, eignete er sich keinerlei praktisches Wissen an." Seine Kinder gerieten "wie glaubwürdig bezeugt ist mehr nach der Mutter als nach dem Vater, was besagen will, dass sie stockdumm waren".

Und was soll man erst sagen angesichts der Tyrannen, welche die Welt regieren? Ist es etwa der Weisheit zu verdanken, dass die Untertanen sie wie Götter verehren? Den Künstlerinnen und den Literaten (und den Filmemachern und Fernsehleuten würde Erasmus heute hinzufügen) genügen schon drei Wörter wie "mittrinken und forthinken", um daraus ein Theaterstück zu machen; anschließend, falls die Sache ankommt, produzieren sie ein Musical, was wiederum reichlich Stoff für eine Menge Talkshows bietet und die Narrheit zu einer Frage provoziert: Woraus ziehen die Medien Nutzen? Aus der Blödheit des Publikums! Warum (diese Frage konnte sich Erasmus noch nicht stellen) sind Talkshows so beliebt? Weil der neudeutsche Begriff viel besser klingt als die sachgerechte Übersetzung, für die wir nicht einmal drei Wörter benötigen: Hohles Geschwätz.

Zusammen mit Sebastian Brants Narrenschiff (1497), Till Eulenspiegel (älteste erhaltene Fassung 1510/11) und des Franziskaners Thomas Murners Narrenbeschwörung (1512) gehört Erasmus' Lob der Torheit zu den Anfang des 16. Jahrhunderts bekanntesten satirischen Schriften. Der Spötter Erasmus jedoch erweist sich als Seher - nicht im Sinn eines Visionärs, sondern eines Diagnostikers.

Erasmus und Thomas von Kempen

Zeitlich gesehen kann nicht ausgeschlossen werden, dass der große Gelehrte sich, was die literarische Gattung der Satire betrifft, von Brant inspirieren ließ. Sachlich betrachtet hingegen scheint ein anderer Einfluss maßgebend gewesen zu sein, nämlich das damals neben der Bibel meistverbreitete Betrachtungsbuch "Die Nachfolge Christi" des Thomas von Kempen (um 1380-1471). Vor allem das 43. Kapitel dieser frommen Erbauungsschrift scheint es Erasmus angetan zu haben: "Gott, der Herr spricht: Wehe denen, die so gerne zu ihresgleichen in die Schule gehen, um ihre Neugierde zu befriedigen, und nach dem rechten Weg mir zu dienen, nicht fragen. [...] Ich bin's, der den Demütigen in einem Augenblick so hoch erheben kann, dass er in die ewige Wahrheit tiefer hineinschaut, als wenn er zehn Jahre in Schulen geschwitzt hätte."

Was Thomas von Kempen Gott in den Mund legt, plappert bei Erasmus die Torheit nach. Der Mahnung des Mystikers entspricht die Warnung des Gelehrten. Der Erste setzt auf Zuspruch und predigt ein Ideal; Letzterer hält seinen Zeitgenossen einen Spiegel vor Augen. Thomas von Kempen lädt seine Leserschaft ein, den Blick nach innen zu richten. Erasmus von Rotterdam behält die Gesellschaft im Auge - und durchschaut sie.

Im Gegensatz zum Mystiker aus Kempen, der sich aufs Prinzipielle und aufs Geistliche beschränkt, lässt er die Betörten Revue passieren, angefangen von den Königen und Fürsten, die sich schon beim Frühstück mit ihren Hofnarren unterhalten. Auf sie folgt eine ganze Prozession, in der alle sozialen Schichten und sämtliche Berufsstände mitmarschieren, Künstler, Theaterleute, Redner und Dichter, "von denen die kümmerlichsten am lautesten von sich reden machen; denn je größer der Blödsinn, desto mehr Leute, die ihn bestaunen". Sie und unzählige andere lässt Erasmus antanzen und führt sie vor, die Plagiatoren, die sich mit fremden Versen schmücken, die Rechtsgelehrten, welche die Gesetze bald so und bald anders interpretieren, in der Meinung, "die Bedeutung einer Sache wachse mit ihrer Kompliziertheit", die Mathematiker, die mit Drei-, Vier- und Vielecken jonglieren, die Philosophen, die es fertigbringen, stundenlang daherzureden, ohne etwas zu sagen.

Wenn gegen Ende auch noch die Schriftgelehrten und Gottprotze in Erscheinung treten, mausert sich diese ganze Comédie humaine immer mehr zu einer Divina Commedia. Vor allem wenn die Letzteren darüber debattieren, ob die These denkbar sei, dass Gottvater den Sohn hasste. Oder ob sich Gott auch in einer Frau darstellen könne?

Ist es purer Zufall, dass mehr als ein Viertel des ganzen Buches von kirchlichen und religiösen Angelegenheiten handelt? Dass die Kirchenkritik, welche die Torheit vorbringt, weit schärfer, ironischer, schneidender ist als alle übrigen Spottreden? Gewiss nicht! Wir befinden uns am Vorabend der Kirchenspaltung und damit im Vorfeld der überzogenen Polemiken; nur wenige Jahre später werden Pamphlete und Schmähreden Hochkonjunktur erleben, ebenso Karikaturen, auf denen Päpste mit Eselsohren und Bocksfüßen und die Reformatoren mit Drachenschwänzen und Teufelshörnern ausgestattet sind. Ähnlich wie die Karikatur auffällige Züge übertreibend darstellt, bezieht sich die Satire auf tatsächlich vorhandene Missstände. Karikatur ist gezeichnete Satire; Satire ist in Worte gefasste Karikatur. Dass und wie nahe beide miteinander verwandt sind, illustrieren im Wortsinn und augenfällig Hans Holbein d. J. und Ambrosius Holbein mit ihren Federzeichnungen in einem in Basel 1515 von Johann Froben gedruckten Exemplar des Lobs der Torheit. Auf kongeniale Weise haben die beiden Künstler den Text ins Bild umgesetzt.

Thomas Morus zugeeignet

Die Erstausgabe der in lateinischer Sprache verfassten Schrift über die Torheit erschien 1515 in Paris. Gewidmet hat Erasmus sein Werk dem von ihm über alles geschätzten Thomas Morus, der selber durchaus Sinn für Humor hatte und auch der Satire nicht abhold war. Der englische Humanist und Staatsmann wird auf die Anzüglichkeit, die Erasmus sich in einem Brief an ihn erlaubte, gewiss nicht erbost reagiert haben: "Welche Göttin hat dir denn so etwas eingegeben?, wirst du bei der Lektüre meines Buches sagen. Nun, da war es ernstlich einmal dein Familienname Morus, der mich auf diesen Gedanken brachte, ist er doch dem griechischen Wort môría [= Torheit, Narrheit] so ähnlich, wie du selbst seinem Inhalt unähnlich bist, und zwar - darüber sind sich alle einig - im allerhöchsten Grad. Außerdem vermute ich, du habest für diese Spielart meines Witzes ein ganz besonders Verständnis." Im selben Brief beklagt sich Erasmus darüber, "dass man die entsetzlichsten Lästerungen wider Christus eher hinzunehmen geneigt ist, als ein harmloses Späßchen auf den Papst oder auf die Fürsten, besonders dann, wenn es dabei ums Geld geht".

In den Zeiten kirchlicher Zensur hat niemand so wie Erasmus vom Narrenrecht der freien Rede geschickteren Gebrauch gemacht. Mit geistreichem Witz und gnadenloser Spottlust zieht er gegen die gesellschaftlichen und kirchlichen Missstände ins Feld, ganz anders als Luther, der anfänglich versuchte, sich bei ihm einzuschmeicheln und ihn später, als er die Reformation ablehnte und auf Reformen pochte, mit unflätigem Gebelfer bedachte. Und doch ist es Erasmus, der (wie die Theologen später sagen werden) die Eier gelegt hat, welche Luther dann ausbrütete.

Der Autor, Angehöriger des Minoritenordens und Fundamentaltheologe, ist als Buchautor bekannt. Er lebt bei Basel

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