Im Anflug auf die Aufklärung
Michel de Montaigne wurde endlich wieder vollständig ins Deutsche übersetzt: Ein Lieblingsautor entsetzter und angewiderter Humanisten.
Michel de Montaigne wurde endlich wieder vollständig ins Deutsche übersetzt: Ein Lieblingsautor entsetzter und angewiderter Humanisten.
Er war ein Meister der Kunst, sein Innerstes preiszugeben und sich dabei doch bedeckt zu halten. Er verstand es, ellenlange Argumentationen im luftleeren Raum verlaufen zu lassen, aber so, daß der Leser begriff, worauf er hinauswollte. Doch festnageln ließ er sich nicht. Kunstvoll vorbereitete Schlußfolgerungen, denen er konsequent zuzustreben scheint, bleibt er zuletzt schuldig. Wenn ihn der Leser endlich beim Schlafittchen zu haben meint, dreht er ihm eine Nase und läßt alles in der Luft hängen. Er, der Herr Michel Eyquem, Seigneur de Montaigne, blieb nicht zuletzt deshalb bis heute eine ebenso faszinierende wie schillernde Figur.
Wer bei der Lektüre gelegentlich in Verwirrung gerät, ist daran selbst schuld. Schließlich hat ihn der Autor der "Essais" in seiner Einleitung gewarnt und zugleich kunstvoll aufs Eis geführt. Den Leser augenzwinkernd aufs Eis zu führen, war damals freilich eine beliebte Methode. Das 1511 erschienene "Lob der Torheit" des Erasmus von Rotterdam zu kennen, war für einen humanistisch gebildeten Mann ein Muß.
Er verfolge kein anderes als ein rein häusliches und privates Ziel, heißt es also in der Einleitung, auf des Lesers Nutzen sei der Sinn des Verfassers ebensowenig gerichtet wie auf seinen eigenen Ruhm, "für beides reichen meine Kräfte nicht aus". Er schreibe sein Buch bloß, um seinen Freunden, "wenn sie mich verloren haben werden (was bald der Fall sein wird)", ein anschaulicheres Bild seiner selbst zu hinterlassen: "Ich selber, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs. Es gibt keinen vernünftigen Grund, daß du deine Muße auf einen so unbedeutenden, so nichtigen Gegenstand verwendest. Nun, Gott befohlen!"
War er also nur ein braver Bürger, der zum Nutzen seiner Freunde Lebensweisheiten zu Papier brachte? War er ein Listiger, der ihnen in der Maske der Naivität die Meinung hineinsagte? Ein Philosoph, der sich eine Hintertür offenhielt? Oder war er ein Subversiver, der eine Botschaft durchbringen wollte, den gegebenen Freiraum nutzte und darauf achtete, sich nicht unnötig zu gefährden? Oder ein bißchen von allem? Um sich davon ein Bild zu machen, aber auch, um ihn auf sein notorisches Sich-nicht-festnageln-lassen festnageln zu können, muß man freilich die Möglichkeit haben, Montaigne durch keine Zensur, keine Auswahl, keine Herausgeberwillkür verkürzt, ganz zu lesen. Dies ist nun zum ersten Mal anhand einer Übersetzung des vollständigen Textes ins Deutsche möglich.
Die bislang jüngste vollständige Montaigne-Übersetzung ist, man glaubt es kaum, 200 Jahre alt und stammt von Johann Joachim Christoph Bode. Sie beruhte auf einem unvollständigen und fehlerhaften Original. Die Übersetzung von Johann Daniel Tietz ist noch ein paar Jahrzehnte älter. Beide sind Musterbeispiele dafür, daß die großen Originaltexte lebendig bleiben, während die Übersetzungen Staub ansetzen, dahinwelken und immer wieder durch neue ersetzt werden müssen. Das gilt für Shakespeare, für die antiken Autoren und ebenso für Montaigne. Dessen spätere Übersetzer übertrugen aber nicht mehr den ganzen Text. Daher ist die vollständige Gesamtübersetzung der Essais von Hans Stilett ein literarisches Ereignis erster Güte.
Er hat ohne Verlagsauftrag zehn Jahre daran gearbeitet, und sie ist nun in der von Hans Magnus Enzensberger im Eichborn-Verlag herausgegebenen "Anderen Bibliothek" erschienen, und zwar im klassischen großen Folio-Format. Stilett übertrug Montaigne in ein modernes, flüssiges, sehr lesbares, dabei schönes Deutsch, das Montaignes unverblümter Direktheit und seinen Anzüglichkeiten entspricht. Dabei arbeitete er mit größter Sorgfalt, zog bei seinen Abwägungen, was der Autor im einen oder anderen Fall gemeint haben könnte, nicht nur vorhandene Übersetzungen ins Deutsche, sondern auch solche in andere Sprachen heran und berücksichtigte den jüngsten Stand der Forschung. Selbstverständlich enthält seine Übersetzung die vielen oft umfangreichen handschriftlichen Eintragungen Montaignes in dessen Handexemplar, das zu Bodes Zeiten noch verschollen war und erst Anfang des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde (der Band enthält Abbildungen mehrerer Seiten daraus). Mit einzelnen Sätzen rechten kann man bei jeder Übersetzung, und über die Übertragung von Montaignes Klassikerzitaten in ein gereimtes Deutsch kann man durchaus verschiedener Meinung sein. Immerhin lesen sie sich griffig: "Der Geist, vom Müßiggang verwirrt, zum ruhelosen Irrlicht wird." Montaigne zitierte seine Lateiner im Original, aber wer versteht heute noch Latein?
Wir können ihm nun besser als je zuvor beim Denken zu- und beim Schreiben auf die Finger schauen. Er verbreitet sich über alles und jedes. Er vermittelt tradierte Lebensweisheit, untersucht militärische, politische und diplomatische Probleme (einmal mehr erkennen wir, wieviel von dem, was die Antike gewußt hatte, im 16. Jahrhundert noch Geltung besaß), und immer wieder geht er daran, über Selbstverständliches von Grund auf neu nachzudenken, oder wie man heute sagen würde: es zu hinterfragen. Diese Texte sind es, in denen wir den Vorfahren der Aufklärer erkennen: Einen Denker, der weit davon entfernt ist, am Glauben rütteln zu wollen. Vielmehr den Denker einer vom Glauben verlassenen Zeit, einer Zeit, in welcher eher der Glaube die Menschen verläßt als umgekehrt, jedenfalls in der angestammten, naiven Form. Bei seinen Überlegungen über das richtige Leben spielt die Religion die geringste Rolle. Er gibt sich als braver Sohn der Kirche, schert sich aber nicht um sie beim Denken, das in seinen Essais zu einem langen, zweihundertjährigen Anflug auf die Aufklärung ansetzt.
Noch ist größte Vorsicht angesagt. Ein Kabinettstück seines Sich-nicht-festnageln-Lassens ist der 23. Essai des Ersten Buchs: "Über die Gewohnheit und daß man ein überkommenes Gesetz nicht leichtfertig ändern sollte." Da nebelt er sich in einen Wust von Berichten über fremde Völker ein, die als Delikatesse Spinnen mästen, sich Goldstangen durch Brüste und Gesäßbacken ziehen, die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen dem Wein beimischen, den sie trinken oder sie von Vögeln auffressen lassen, von Völkern, die den Fisch roh essen und solchen, wo die Frauen "soviel schön gefranste Quasten" am Saum ihrer Röcke tragen, "wie sie Männern beigewohnt haben", und das seitenlang, durchmischt mit Klassikerzitaten und erstaunlichen Anekdötchen, um "die Wirkungen der Gewohnheit" und die "erstaunlichen Verformungen, die sie unseren Seelen zufügt", darzustellen. Dabei läßt er, nicht ohne es ausdrücklich zu erwähnen, "jene groben Irrlehren in den Religionen beiseite, die so viele große Völker und so viele vortreffliche Persönlichkeiten geblendet haben", rüttelt einmal ganz sacht an der Autorität der Kirche, indem er diese Enthaltsamkeit damit begründet, daß "Glaubensdinge außerhalb des menschlichen Erkenntnisvermögens liegen" und es daher entschuldbarer sei, "sich darin zu verlieren, wenn einen nicht die göttliche Gnade auf außergewöhnliche Weise erleuchtet". Doch den Schluß, daß es allemal besser sei, an einer gegebenen Übereinkunft, wie immer diese auch aussehen mag, festzuhalten, als sich im Streit um die eine richtige unter den vielen möglichen Überzeugungen und Ordnungen die Schädel einzuschlagen, diesen Schluß selber zu ziehen, das überläßt er wohlweislich dem Leser. Nachdem er ihm den Glauben an die einzig richtige Konvention gründlich vermiest hat, empfiehlt er sich mit einer kühnen Volte zu unerprobten medizinischen Heilmitteln und einem Hinweis auf Plutarch, wonach in bestimmten Situationen ein Herrscher, "zum Befehlen geboren, nicht nur gemäß den Gesetzen, sondern auch den Gesetzen selbst" befehlen müsse, wenn es das öffentliche Wohl erfordere.
Das war wohl ein aktueller Hinweis. Machiavelli war gerade sechs Jahre tot, als Montaigne geboren wurde, und der vermutlich im gleichen Jahr wie Machiavelli geborene Erasmus von Rotterdam starb, als Montaigne drei Jahre alt war - auch er ein Verlorener zwischen den Fronten aufeinander eindreschender Glaubenskrieger. Wie sehr dieses Aufeinander-Eindreschen der Gläubigen die Verabschiedung des Denkens vom Glauben beschleunigte, wird bei Montaigne zum Greifen deutlich. Aber bei diesem Ahn der Aufklärung ist das sich von den Zwängen befreiende Denken noch frei von Selbstgerechtigkeit und Mutwillen.
Wir müssen seine Lebensumstände bedenken, um ihn zu verstehen. Der damals als Mitglied der obersten Berufungsinstanz von Bordeaux amtierende Montaigne erlebte mit 27 Jahren die Ketzerverbrennung in Bordeaux und die Erhebung der 7.000 Protestanten mit den darauf folgenden Hinrichtungen, zwei Jahre später die Niedermetzelung der zum Gottesdienst versammelten Protestanten in Wassy und den Beginn des ersten Hugenottenkrieges. Der Zeuge unvorstellbarer Grausamkeiten zog sich am 28. Februar 1571, seinem 38. Geburtstag, "der öffentlichen Pflichten und Bürden müde", sprich: angewidert, in einen Turm zurück, um nur noch über sich und die Welt nachzudenken. Das folgende Jahr 1572, in dem er begann, die Früchte seines Nachdenkens zu Papier zu bringen, war das Jahr eines neuen Massakers, der Bartholomäusnacht. Nachdem Montaigne 1580 die ersten beiden Bände seiner "Essais" veröffentlicht und König Heinrich III. vorgelegt hatte, schrieb er weiter - bis zu seinem Tod 1592. Dazwischen wurde er aus seiner Ruhe herausgerissen: Er akzeptierte nach dringender Aufforderung des Königs seine Wahl zum Bürgermeister von Bordeaux, empfing mehrtägigen königlichen Besuch, floh vor der Pest und erlitt viel persönliches Unglück. Er lebte von 1533 bis 1592, genau zwischen Machiavelli und Erasmus von Rotterdam - und Descartes, der vier Jahre nach Montaignes Tod geboren wurde.
Der entsetzte und angewiderte Humanist wurde zum Lieblingsautor vieler Entsetzter und Angewiderter, unter ihnen Thomas Bernhard.
Hans Stilett arbeitet an einem Kommentar-, Erläuterungs- und Quellenband zur Übersetzung, der in etwa zwei Jahren fertig werden soll.
Michel de Montaigne - Essais Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Die Andere Bibliothek im Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1998, 576 Seiten, Ln., Folioformat, Subskriptionspreis bis 1.4.1999 öS 715,- nachher öS 1080,