Mit dem Kisch durch Wien spazieren

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Wilhelm Kischs Monumentalwerk des späten 19. Jahrhunderts über Wiens Straßen und Plätze, ist als nobler Reprint des Archiv Verlages wieder verfügbar.

Wilhelm Kisch war kein Historiker, sondern ein Amateur im besten Sinne. Aber ein gründlicher Mann. Ungeheuer belesen, immer auf der Suche nach vergessenen Einzelheiten aus der Geschichte Wiens, und dabei von gewaltiger Ausdauer. So kam ab 1883 ein Monumentalwerk zusammen: "Die alten Strassen und Plaetze Wien's" und "Die alten Strassen und Plätze von Wiens Vorstädten und ihre historisch interessanten Häuser".

Kein Wunder, wenn die Viennensia-Sammler eine schöne Stange Geld für dieses Rarissimum hinlegen. Auch ein früherer Reprint ist längst bibliophil. Nun liegt das Werk als Neuausgabe vor, zu akzeptablem Preis und sehr nobel ausgestattet. Dem Archiv Verlag ist schon manches ansehnliche Ding gelungen. Ohne sein Wien Archiv, den Reprint von "Die Österreichisch-Ungarische Monarchie in Wort und Bild" oder ein anderes seiner Projekte herabzusetzen, möchte ich dem Kisch die Palme reichen, mit seinen fast 2.000 Seiten und seiner Fülle von Stichen, Holzschnitten und Zeichnungen, in weinrotem Cabra mit Goldprägung.

Wilhelm Kisch war ein Sammler und Erzähler und ein begnadeter Geschichtenerzähler. Bei den wohlbekannten, nachprüfbaren Sachen ist er genau, beim Sagenhaften und Mythischen, das in Wien so reichlich blühte, nahm er die Dinge, wie und wo er sie bekam. Gerade dies ist ein wahres Glück für seine Leser. Vieles, was er berichtet und erzählt, wäre längst vergessen, hätte es Kisch mangels Überprüfbarbarkeit weggelassen. Wenn man also auch oft nicht weiß, ob sich eine Begebenheit oder von Generation zu Generation überlieferte Anekdote aus Wiens Stadtgeschichte so und nicht doch anders oder überhaupt zugetragen hat, so sind sie doch allesamt Teil der Wiener Geschichte und Ausdruck seiner Mentalität.

Reiz der Umständlichkeit

Warum soll sich also an einem eisigen Winterabend des 16. Jahrhunderts kein grimmiges Ungeheuer von einem schwarzen Bären bis in die Gegend vorgewagt haben, wo heute der Naschmarkt beginnt, damals aber nur wildes Gestrüpp und Buschwerk wuchs? Warum soll der Müllerbursche nicht aus dem Fenster gesprungen sein, den vom Bären angefallenen und bereits zu Fall gekommenen Müller zu retten, und warum soll der Müllerbursche, rittlings auf dem Rücken des Bären gelandet, diesem nicht von hinten die Kehle abgedrückt haben, was gewiß wahre Bärenstärke erforderte, ihm dafür aber auch die Haut des Bären und neben dem Spitznamen "Bärenhäuter" (weil er sich aus dem Fell einen Mantel machen ließ) lebenslangen Ruhm und der Mühle seines Chefs den Namen Bärenmühle eintrug?

Die antiquierte Schreibe Wilhelm Kischs und seine Umständlichkeit hat heute schon wieder einen eigentümlichen Reiz. Wo man heute nur liest "siehe untenstehendes Bild" oder gar nur "Foto links unten", schrieb er: "Nach einem in der Wiener Stadt-Bibliothek befindlichen werthvollen Bilde zeige ich im Nebenstehenden sub Figur 27...".

Seine Vergleiche sind mitunter erheiternd, aber es ist nun einmal die Sprache der Zeit, wenn er die Bescheidenheit des Dichters Castelli so charakterisiert: "Eine Eigenschaft jedoch besass er, die bei unseren Schriftstellern jetzt immer seltener wird: er sprach nie von seinen eigenen Werken, und wurde er dennoch von Jemandem dazu gezwungen, so machte er in der Regel immer ein so verschämtes Gesicht, wie etwa ein tugendhaftes Fräulein, das man eben an verstohlene ,Mutterfreuden' erinnert." Vielleicht beruhte Castellis Bescheidenheit, was seine Werke betraf, einfach auf realistischer Selbsteinschätzung, denn seine fast zweihundert Komödien und Dramen waren, wie in jenen Zeiten ohne Urheberrecht üblich, flüchtige, leicht überarbeitete Übersetzungen ausländischer Novitäten.

Kisch war ein treffsicherer Stilist. Wie er die Gewaltsamkeit des Mittelalters heraufbeschwört, um dann doch auf die romantische Verklärung der mittelalterlichen Handwerkswelt einzuschwenken, das ist schon raffiniert: "In den wüsten Zeiten der rohen Gewalt, als noch das Faustrecht bis in die Städte drang, waren die schmalen Gässchen mit ihren hohen Erkern und Ecken, mit ihren Biegungen und Windungen das trefflichste Mittel zur Vertheidigung. Und wenn die Sturmglocke ertönte, oder Aufruhr das Leben der Bürger bedrohte, sperrte man die Gassen mit Ketten ab, errichtete Verhaue, hinter denen man die rohen Kriegsknechte oder die Herren vom Stegreif erwartete. Aber auch in friedlichen Zeiten leisteten die schmalen und hohen Strassenwände einen gar trefflichen Schutz gegen Wind und Wetter. Der Regen z.B. musste sich fein säuberlich bescheiden, er konnte nicht wie ein arger Trommler an die Fenster klopfen, sondern kam, gebrochen durch endlose Ecken, Thürmchen und Vorsprünge, nur sachte rieselnd zur Erde. Und vollends der Sturmwind! Der wüste Geselle vermochte es nicht, hier seine Riesenflügel auszubreiten, sondern gelangte über die hohen Spitzdächer durch die Schornsteine mühsam in die Gelasse, wo man seiner spottete und ihn nicht zu fürchten brauchte. Aber auch bei schönem Wetter, in heissen Sommertagen, wo die hohen Steinmauern den brennenden Sonnenstrahlen den Eingang verwehrten, wie bot hier der Abend liebliche Kühlung! Wie behaglich sass hier der Familienvater mit den Seinen und dem Hausgesinde auf steinernen Bänken vor dem Hausthore, wie fröhlich trank hier der Meister mit seinen Gesellen den Abendtrunk und sang ein ehrbar Lied..."

Wilhelm Kisch wurde 1827 geboren und hat die heiße Phase der Industrialisierung, das Handwerkersterben, die Verelendung breiter Schichten, deren Wissen und Können plötzlich nichts mehr wert war, mitbekommen. Der Handwerksgeselle stirbt aus, aber die Spätromantik liebt ihn. Moritz von Schwind malte ihn, Eichendorff bedichtete ihn, Schubert besang ihn, in den bürgerlichen Wiener Salons schwärmte man von ihm. Kisch ist ganz auf der Linie jener, die zum alten Zunftwesen zurückkehren wollten. Im übrigen ist sein Stil immer vornehm, Krassheiten glättend, wenn sie schon vorkommen müssen.

Human und Liberal

Er scheut aber nicht davor zurück, Stellung zu beziehen. Im Kapitel über den Judenplatz erkennt man, welch liberalen und humanen Geistes Kind er war, "hier wurden die göttlichen und weltlichen Gesetze gelehrt, hier sog man freigeistige Denkungsart ein, gleich jenen spanischen Juden, die damals auf einer ausserordentlichen Höhe der Bildung standen". Doch der Judenplatz ruft auch "die Schrecken und Grausamkeiten einer fanatisch bewegten, glaubensfinstern, unduldsamen Zeit" wach. Der Platz hält - wie man da im 15. das 20. Jahrhundert erkennt! - "mit unverlöschlichen Zügen jene Spuren von Gräueltaten" fest ... die das Brandmal ewiger Schande dem XV. Jahrhundert aufdrücken."

Das Werk umfaßt vier Bände über die Innenstadt und acht, dem Kronprinzen Rudolf gewidmete, über die Vorstädte (Leopoldstadt, Brigittenau, Landstraße, Wieden, Margareten, Mariahilf, Neubau, Josefstadt, Alsergrund). Der Aufbau ist eigenwillig und originell. Der Leser wird an die Hand genommen und von Platz zu Platz, von Straße zu Straße geführt. Dabei erzählt ihm Kisch von den Bauwerken, von historischen Ereignissen, flicht kulturhistorische Kapitel ein, eines lesenswerter als das andere.

Zum Beispiel über den ersten Gussstahlofen, der sich an der Stelle des heutigen Hauses Webgasse 26 befand. Ein Martin Miller hatte ihn 1804 nach englischem System erbaut. Napoleon wollte das System um 200.000 Francs kaufen, blitzte aber beim patriotischen Miller ab, wie uns ausführlich erzählt wird.

Oder über Wiens Bauentwicklung im 19. Jahrhundert. Kisch kann boshaft sein, und hier ist er es besonders. Das Burgtor ist "eine allzu sklavische Nachbildung seines Vorbildes in Athen", Kaiser Franz kommt auch schlecht weg, dafür ist Franz Josephs Handschreiben über die Stadterweiterung "ein Ausguss wahrhaft erleuchteten Geistes". Kischs Engagement, was das Bauliche betrifft, gehört einer "modernen Barocke".

Oder über den Blumenfimmel der Wiener, den das Linné'sche System mit seinen 935 Pflanzen-Hauptgattungen im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts in Wien auslöste und über den sich Kisch weidlich lustig macht: "Eine elegante Dame musste in ihrem Boudoir wenigstens ein ganz kleines Treibhäuschen anlegen und ihren Linné genau kennen. Es wäre ein Barbarismus gewesen, wenn der Gebildete damals die Pflanzen nicht bei ihrem lateinischem Namen zu nennen gewusst hätte."

DIE ALTEN STRASSEN UND PLÄTZE VON WIEN. Von Wilhelm Kisch. Wien 1883, 1885, 1895. Reprint: Archiv Verlag, 1080 Wien 2000/2001. Mölker Gasse 4, Tel. 401 1571, Fax 401 1573. Rund 2.000 Seiten in 12 Bänden. Subskriptionspreis bis 31.12.2001: Band 1 öS 398,-/e 28,90, Band 2-12 pro Band öS 598,-/e 43,50 (später 598,-/e 43,50 und 798,-/e 58,00)

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