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Styria hat Ilse Tielschs Romantrilogie wieder vervollständigt.

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Styria hat Ilse Tielschs Romantrilogie wieder vervollständigt.

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Große Heimatromane sind heute selten. Im Gegentrend legt Styria "Die Ahnenpyramide" von Ilse Tielsch neu auf. Das Buch war 1980 als erster Band einer Trilogie über das Schicksal einer mährischen Familie in vier Jahrhunderten erschienen. Die Trilogie ist nun wieder vollständig zu haben.

Heimat, was ist das? Die Antworten kann pathetisch, weinerlich, intim sein, immer ist sie unvollständig. Inge Tielsch bemüht sich nicht um ein geschlossenes Konzept. "Die Eltern sprechen das Wort HEIMAT selten aus ... sie sagen: DAMALS ZU HAUSE". Manchmal wird Heimat vom Praktischen her deutlich: "wo du das Recht hast zu leben, sterben, begraben zu werden" oder "wo wir unsern unverwechselbaren Dialekt gelernt haben", "wo mein Bewußtsein geprägt worden ist" oder "wo man den Kindern sagen kann: Das ist eure Heimat!" Am besten noch wird Heimat vom Verlust her klar, vom Heimweh nach etwas zeitweise oder ganz Entschwundenem. Das ist das eine Grundthema Ilse Tielschs: Verlust von Heimat. 1945, als Sechzehnjährige aus Auspitz in Südmähren vertrieben, lernt sie vom Vater: "Man kann, ohne seine Wohnung zu verlassen, zuerst österreichischer, dann tschechoslowakischer, dann deutscher, dann überhaupt kein Staatsbürger mehr sein." Die Autorin macht ihr Vertreibungstrauma zu ihrem Lebenskapital. Sie sammelt alles, was an Dokumenten, Bildern, Erinnerungen noch greifbar ist und stellt ihre verlorne Heimat wie ein weitläufiges Museum dar (manchmal so weitläufig, daß der Betrachter den einen oder andern Saal ausläßt). Es erscheinen die Orte ihrer Kindheit, Eltern, Voreltern bis zurück in die Hussitenkriege, alles zusammen im Habsburgischen Reich als der "großen Heimat", die schließlich "in viele kleine Heimaten" zerfällt. Aber auch Sehnsuchtsheimat wird besucht, Orte "wo ich selbst nie gewesen bin": wo man Glasperlen wickelt, Flachs anbaut, Leinen färbt. So entsteht ein dichtes kultur-, sitten-, sozialgeschichtliches Gemälde. Immer wieder greift sie bei alten Fotos "zur Lupe", stellt tomographisch die Schärfe auf gewünschte Tiefen ein, tritt selbst ins Bild und bewegt sich in der Vergangenheit, als könnte sie die Vorfahren erleben wie frühere Inkarnationen. Ihre Berichte von dort sind anschaulich, lehrreich und genau; was nicht belegt ist, ergänzt sie wie ein geschickter Restaurator.

Mit dieser feinfühlenden Methode geht sie ans zweite Grundthema: die Ahnenpyramide. Ähnlich wie Heimat sich aus unzähligen Erlebnissen zusammensetzt, ist das Ich eine Überlagerung von Merkmalen, Prägungen, Charakterzügen einer langen Ahnenkette. "Ich spiele ein Zusammensetzspiel ... Ich suche mir aus den Gesichtern derer, die vor mir gelebt haben, mein eigenes Gesicht zusammen, aus dem, was ich über sie erfahren habe, meinen Charakter, meine Talente, meine Aversionen, ich denke darüber nach, wo sie gescheitert sind, wo ich selbst gescheitert bin, finde Ähnlichkeiten, Überschneidungen, Parallelen, stelle fest, daß sich Katastrophen und Unglücksfälle wiederholt haben, erschrecke vor diesen Wiederholungen, merke, daß das Wort KETTE plötzlich eine andere Bedeutung für mich gewinnt, erschrecke vor dieser Bedeutung."

Mit dem gleichen Instinkt wie für die Fakten versetzt sie sich in die Befindlichkeit von zwölf Generationen. So zeichnet sie weder ein sanftes Bild, noch führt sie Anklage: Unter den Ahnen sind Choleriker, Selbstmörder, Kleinliche, und die Zeitumstände präsentieren hämische Volksgenossen in der Nazizeit, brutale russische Soldaten, gnadenlose tschechische Behörden. Sie hadert nicht mit ihrem Schicksal, weder politisch noch privat. An der Spitze ihrer Pyramide steht sie auf einem sicheren Ahnenfundament, diese Verankerung in der Tiefe hilft, "daß wir nichts, was unsere eigene Existenz angeht, überschätzen ... nicht unsern eignen Anfang, aber auch nicht unsern eignen Tod."

Vielleicht schreiben wir nach solcher Lektüre unsere Tagebücher sorgfältiger, erzählen unseren Kindern ausführlicher von Damals zu Hause. Und vielleicht geht uns das Schicksal der 40 Millionen Flüchtlinge auf der Welt näher.

Die Ahnenpyramide Roman von Ilse Tielsch, Verlag Styria, Graz 1998, 425 Seiten, geb., öS 350,

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