Prager Trauma, Wiener Sieg

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Die Harmonie der Widersprüche bei Leos Janacek.

Der kleine Leo Eugen, wie Janacek vor 150 Jahren in die Matrik eingetragen wurde, war arm, wie die meisten damals mit den ek-Endungen. Doch er war musikalisch. Die Mähren singen gerne, sie haben ein musikalisches Gedächtnis. Es verbindet sie mit den Chorälen der slawischen Liturgie, die von hier aus ihren Anfang nahm. Als frischer Chorknabe feierte Leo ihr Millenium, und die Kirchenempore war sein erster Schritt nach oben. Die Bodenhaftung riet ihm jedoch zur Umsicht. Zu einer Lehranstalt, die Dorfschulen mit Menschen wie seinem Vater versorgte.

Er ging nicht nur auf lepschi (das Bessere), wie die Wiener sagen. Er hat das "nejlepoÇsí", das Beste, gefunden. Jedenfalls für seinen kleinen Musikus von Gottes Gnaden. Den man sich bald in Kremsier merken wird. Bei den Augustinern. Und dann in Brünn. In der B.Stadt, wie sie Musil nannte. In seinem "Mann ohne Eigenschaften", in dem er den Hader der Nationen beschreibt. Hier musste man also wählen: Sprachen, Trachten, Uniform. Und für ein tschechisches Gemüt hat Brünn einen Nachteil mehr gehabt: Es war eine B.Stadt hinter einer A.Stadt. Hinter Prag.

Mährens Musik

Zuerst jedoch hat sich der schmale Jüngling in einen Mann verwandelt: Gute Figur, schwarzes Haar, Stimme, die singt und schweigt mit Ausdruckskraft. Und dazu noch Geige, Klavier, Orgel. Die Schule nennt sich "slawisch", ihr Direktor spricht Deutsch. Er gebraucht auch Tschechisch. Ist Patrizier, nicht militant, bilingual. Seine Frau ist Österreicherin, sodass die Tochter, die einzige, mehr auf Sidonie hört als auf Zdenka. Ein Mädchen aus gutem Hause. Sie muss auch das wahre K. und K. der Zeit beherrschen: Klavier und Konversation. Das Zweitere nur ungleichmäßig.

Kein Wunder, dass sie einen Lehrer bekommt. Den besten Pianisten an Vaters Schule. Am Anfang sieht es nicht nach Liebe aus. Denn Zdenka ist erst dreizehn, er zwölf Jahre älter. Doch er unterschätzt ihre Ausdauer und hält bald um ihre Hand an. Die Eltern sind schockiert, aber auch versessen auf die Kleine. So bleibt ihnen nichts anderes, als um Geduld zu bitten. Bis das gute Kind zumindest 16 wird und der Virtuose ein Zeugnis hat, das seine Genialität auch außerhalb der B.Stadt attestiert. In einer der A.Anstalten im Ausland, wie etwa der in Leipzig.

So sind die deutschen Briefe Janaceks an Zdenka entstanden, die das Los der Liebe in lausigen Zeiten belegen. Hätte jemand gesagt, dass zwischen den beiden der Zwist der Nationen eine Rolle spielen wird, hätte man ihn ausgelacht. Doch Leipzig war auch ein Muss und nicht die Musen. Janacek hat hier keinen gefunden, den er bewundern könnte, keinen, der ihm Mut zu jenem Musikkonzept zugesprochen hätte, das ihn von Neuklassik und Spätromantik entfernte, der damaligen Mode. Er kehrte heim als Versager.

Liebe in lausigen Zeiten

Und irgendwann zu dieser Zeit wird er bei Schulzes Zeuge eines Küchentratsches mit vielen Konsequenzen. Eine Tante aus Tirol hatte sich gewundert, warum das junge Paar auch privat nur Tschechisch plappert. Diese Bauernsprache! Der Bräutigam ist perplex: Welche Hybris! Und dies bei den eigenen! War nicht diese Sprache die älteste der Slawen? War sie nicht die Quelle seiner Faszination? Hat er nicht schon länger ihre "nápevky" notiert? Die Sprachmelodien, das "Angesungene", wie er es selber getauft hat? Im Unterschied zu dem bramarbasierenden Dur der deutschen Zungenpauke? Nein! Das war ihm zuviel. Zum Entsetzen der Familie erscheit er als Bräutigam nicht im Frack, sondern in der "Tschamara". Dem Schnürrock der Sokol(Falken)-Bewegung, eines Turnvereins, der demonstrierte, dass die Tschechoslawen keine Tauben sind.

Der frische Schwiegervater schluckte auch noch dies und unternahm den zweiten Zähmungs- oder Bildungsversuch, dieses Mal in Wien. Das Konservatorium dort erfreute sich eines noch besseren Rufes als das in Leipzig. Bei Janacek bemängelte man seine kleinen Hände, zu rund für die Karriere eines Rubinstein. So endete er bei einem Kren (Kren), dem am wenigsten profilierten Lehrer. Er beauftragte ihn mit einer Pflichtkompositionen, die sich in Janaceks Bibliografie noch heute wiederfindet und in seiner Biografie einen Eklat markiert.

Demütigung in Wien

Die Schüler waren verpflichtet, sich am Wettbewerb zu beteiligen, bei dem eine Kommission ihre Werke beurteilte. Janaceks Komposition war nicht nur unvorteilhaft aufs Programm gesetzt, sondern wurde auch von einem Konkurrenten ganz matt vorgespielt, den man später zum Sieger kürte. Janacek protestierte vehement und schriftlich. Doch bald war er wieder in Brünn, demontiert und demotiviert, fünf Jahre lang unfähig eine Note zu schreiben.

Er dozierte und dirigierte, hat sich mit ZdenÇci verkracht und wieder versöhnt. Ihrem Vater jedoch kein Wort mehr gewidmet. Ungeachtet des Streites hat ihm Zdenka zwei Kinder geschenkt: Olga und Vladimír - beide mit russischen Namen. LeoÇs entdeckte nämlich seine Leidenschaft für die slawische Größe. Die Enge in Brünn glaubte er hinter Brest-Litowsk überwinden zu können. Er lernte Russisch, reiste durch Russland und war versöhnlicher zum Russisch-Slawischen als zum Deutschnationalen.

So hat auch er das spätere Dilemma der Tschechen vorexerziert. Sie waren von der Monarchie enttäuscht, da sie ihnen keine Verbündeten angeboten hatte, die man ohne Wenn und Aber akzeptieren konnte. Die Liberalen übten eine rabiate, ja vornazistische Rhetorik, die Konservativen waren zwar universalistisch, aber auch zu klerikal. So hatten es die universal und liberal denkenden Tschechen nicht leicht. Sie hielten Ausschau nach einer anderen Braut, und die Werbung in Russland zeigte Gefühle. Mit ein bisschen Liebe waren der nationalistische Konservatismus und die Null-Liberalität des Raumes kaum noch zu bemerken.

Ersatzliebe Russland

Und dennoch: Janacek wollte nur, dass seine austrotschechischen Kinder keine Statusdiskussionen führen müssen. Da eben alle Völker der europäischen Mitte sich nicht nur gleichen, sondern auch gleich sind. Er begann, an seiner "Vollständigen Harmonie" zu schreiben. Und musste erleben, wie sein Vladimír an Scharlach stirbt. Und wie das Leben wieder disharmonisch agiert.

Und hat dann Trost gesucht. Nicht nur in den "nápÇevky", auch literarisch. Als Tschechischlehrer an Schulzes Anstalt (mit den besten Noten) beweist er seinen Sinn für das "Angesprochene" der Literatur. Wonach er sucht und was er finden wird, sind Werke, die das Schreiben der Tschechen internationalisieren. So entdeckt er ein Drama aus der mährischen Gegend, in dem Liebe und Leidenschaft, Mut und Demut wahrlich kollidieren. "Ihre Ziehtochter" heißt das Stück. Die schöne Jenufa, bei der frommen Küsterin erzogen, wird von einem armen Bauernsohn geliebt und von einem reichen geschwängert. Es wird geliebt, gestochen und versöhnt.

Die Küsterin wird zur Mörderin, der Verschmähte zum Retter. Das eigene Versagen wird nicht geleugnet, das Gute der anderen nicht durch den Dreck gezogen.

Oper als Kinder-Requiem

Und die Elemente toben wieder. Olga, seine kluge, schauspielerisch begabte Tochter verliebt sich in den Sohn ihres Klavierlehrers. Ach, die Reminiszenz! Janacek jedoch zwingt die Tochter, schriftlich abzulehnen. Worauf der Verschmähte das Juraseminar in Wien verlässt und mit der Waffe erscheint. Zum Glück töten seine Schüsse nur die Liäson. Erst jetzt versucht es Janacek - wie einst der alte Schulz - mit Geduld. Da er Olga schon lange auf russophil getrimmt hat, bietet er ihr eine Reise nach Petersburg. Olga sagt "ja" und freut sich sogar. Ihr Russisch ist exzellent, ihre Gesundheit labil. An den Ufern der Newa steckt sie sich mit Typhus an. Wieder und wieder will sie auf dem Krankenbett Passagen der Oper hören, die der Vater komponiert. Besonders jene, in denen der Verschmähte zum Retter wird. Und sie stirbt gleich nach der Beendigung der Partitur.

Janacek hält das Werk für eine Art Requiem für seine toten Kinder. Er möchte eine gute Inszenierung. Das Orchester in Brünn ist aber zu klein. So schickt er die Oper nach Prag. An das Nationaltheater. Doch dieses ist nicht nur national, sondern auch narzisstisch. Sein Direktor ist selber Komponist. Und Regisseur und Macher. Wenn seinen Namen (Kovacovic) heute noch jemand kennt, dann durch die Kabalen gegen Janacek. Bis Janacek nach zwei Jahren die Nase voll hat und auf eigene Kosten das Brünner Ensemble erweitert. Der Erfolg ist einmalig, und dennoch wird er "zerredet". In Prag und aus Prag. In einer B.Stadt nur eine B.Inszenierung!

Janacek wird polemisch und greift nach einem Autor, den er schon einmal vertonen wollte. Dieser hieß Rak (Krebs), nannte sich aber Cech (Tscheche). Svatopluk Cech: Heiligschar, der Tscheche wollte seinen Tschechen mehr Stolz einimpfen, in seinen "Sklavenliedern" benutzt er Nietzsches "Sklavenmoral" auf patriotisch tschechisch. Doch Janacek gibt auf. Das Cech-Tschechisch als Dichtersprache wirkt ziemlich monströs. Cech hatte jedoch auch Prosa geschrieben und wagte Satire, Farce, ja Persiflage. "Die Ausflüge des Herrn Broucek" haben von all dem eine Portion. Broucek bedeutet auf tschechisch "Kleinkäfer". Cech meinte "Kleinbürger". Sein Broucek ist ein feiger Hund. Akrobat der Anpassung. Einmal betrinkt er sich auf der Prager Burg, diesem Ort unseres Stolzes, und wacht in der Heldenzeit auf, bei den Hussiten. Ihnen führt er die Eigenschaften vor, die man bei uns für österreichisch gehalten hat und in Österreich für tschechisch: Furchtsamkeit, Kriecherei nach oben, Arroganz nach unten, Wehleidigkeit und Missmut.

Befreiender Jubel in Wien

Janacek amüsiert sich und wird ebenfalls ein Erwachen erleben. Nicht in eine Traumwelt, in die Realität, die Träume erfüllt. Es meldet sich ein Prager, der zufälligerweise seine Oper kennt. Er hat sie studiert und bewundert: Max Brod aus dem jüdischen Prag, das zwischen den Landesnationen steckt und oft auch über ihnen. Er hat eine Nase für gute Texte, sowohl tschechisch wie auch deutsch. Er rettet Kafka vor dem Vergessen und macht aus HaÇsek den ersten Weltautor der Tschechen. Nicht die Nationalinteressen fesseln ihn, sondern das Interesse der Nationen, Kontext und ein guter Ton. Er macht die "Ziehtochter" zur "Jenufa" und Janacek zum "Ziehsohn".

Als sich das in Prag herumspricht, werden die Kleinkäfer nervös. Was, wenn dieser mährische Trotzkopf doch noch Erfolg haben wird? In Brünn landet ein Kleinkäfer-Schreiben: Wir haben es uns anders überlegt, Herr Janacek, Ihre "Ziehtochter" ist nicht schlecht, und wenn sie Herr Direktor ein wenig verbessert, werden wir sie spielen.

Und sie spielen sie. Wenn auch fast im Stillen. Vor der Premiere schweigt die Presse ganz, nach ihr bringt sie nur Pflichtkommentare. In Wien sieht man es anders. Oder Richard Strauss und die anderen hören es eben anders. Wien ist eine A.Stadt. Die A.Stadt der Musik der ganzen Hemisphäre. Jetzt zwar ausgehungert grau, das Kommen des noch Graueren schon ahnend - aber bei der Tonkunst unbestechlich. Es spart nicht mit Lob zu Janacek. Ja, es bejubelt ihn!

War das die Musik der Leidenschaft und Milde, die in der Harmonie der Widersprüche gemündet hat? Das Versöhnende darin? Die Trauer und Sehnsucht nach toten Kindern? Den Austro-Tschechen. Jedenfalls war es der größte Tag von LeoÇs Janacek. Wien hatte ihn befreit. Es machte ihn zum freimütigen Tschechen.

Der Autor ist Präsident des Internationalen PEN-Clubs.

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