Stephen King, wasserfest in Plastik verschweißt

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"Das Mädchen" beweist: Nicht überall, wo King draufsteht, ist nur der blanke Horror drin.

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"Das Mädchen" beweist: Nicht überall, wo King draufsteht, ist nur der blanke Horror drin.

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Keiner Mücke wird es je gelingen, bis zum Umschlag des neuen Romans von Stephen King "Das Mädchen" vorzudringen, denn das Buch wird in Plastik verschweißt ausgeliefert. Keine Schutzfolie, wie sie üblich sind bei Büchern und die bereits mit dem Fingernagel geöffnet werden können, ein Buch in einer Überlebenshülle, das im Sumpf und Morast, im Wasser und sicherlich auch einige Jahre in der Wildnis schadlos überleben würde.

Ein Zeichen, daß dieses Buch nur so überdauern kann, als Hülle, weil eben der Inhalt zu vergänglich ist? Nach dem Fortsetzungsroman "Green Mile", der 1996 erschienen ist und in sechs Teilen im Abstand von je einem Monat in jeder Trafik zu erwerben war und der jetzt verfilmt in den Kinos zu sehen ist, nun die Überlebensschutzfolie. Literatur als PR- Gag? Stephen King ist ein Phänomen, ein Massenphänomen, muß dementsprechend zur Kenntnis genommen werden und ist auch eine kritische Betrachtung wert. Das ist in der Literatur ebenso wie in der Politik. Mit Nasenrümpfen allein ist es nicht getan. Stephen King wird gelesen und freut sich über Millionenauflagen. In dieser Kategorie zählt sehr oft nicht nur der Inhalt, sondern auch das Drumherum, auf Neudeutsch würde man es "setting" nennen.

Ohne im Kielwasser von Kulturkonservativen zu schwimmen, die alles, was über den großen Teich unseren Kontinent erreicht, als Ausbund des Bösen orten: Stephen King ist sicherlich ein Nachkomme der amerikanischen Kolonisten, der mit seiner Literatur zur Kolonisierung der Welt nach dem Muster Amerikas beiträgt. Das ist nicht immer einfach, denn King verlangt nicht, daß wir alle bei McDonalds essen, der ja mittlerweile auch von alten Damen und Esoterikern - so zumindest die Werbung - geschätzt wird. Stephen King erwartet von seinen Leserinnen und Lesern auch die Kenntnis des Baseballspiels. Ein gewagtes Unternehmen, denn dieses Spiel erschließt sich nur wenigen, der Rezensent ist bereits mehrmals gescheitert und weiß zumindest über die Bedeutung des "homeruns" Bescheid. Es gibt in Österreich sicherlich nicht viele kundige Baseballfreunde, dennoch wird auch dieser Stephen King gelesen werden, denn er bedient einfache Grundstimmungen.

Nach dem Ende des Kalten Krieges ist der Kampf zwischen Gut und Böse dezentralisiert beziehungsweise ins Übersinnliche und Überirdische verlagert worden. Das Böse bricht ein in die heile Welt und die Betroffenen sind ratlos. So war es auch in Stephen Kings Roman "Es", in dem alles mit einem Papierschiffchen begann, das im Regen in einem überfluteten Rinnstein schwamm und dem der sechsjährige George nachlief. Wer diese Eingangsszene gelesen hat, wird sie nicht so schnell vergessen und braucht sich dafür nicht zu schämen. Stephen King ist ein Markenartikel für Schrecken, gleichgültig, was er schreibt.

In "Green Mile", der Geschichte des unschuldig zum Tode verurteilten Gefangenen, seiner Freundschaft mit dem Wärter und der Freundschaft mit einer Maus als Zellengenosse, war es nicht weit zum Schrecken, denn ein Gefängnis ist kein Mädchenpensionat. Doch was wartet auf ein amerikanisches Mädchen in den Wäldern im Jahr 1999? Würde ich das Geheimnis verraten, bräuchte niemand, der diese Kritik gelesen hat, auch noch den Roman zu lesen, könnte weiterhin ohne Ängste im Wienerwald spazieren gehen und bekäme keine panischen Attacken angesichts von Mückenschwärmen. Kurz gesagt, ohne die wahren Schrecken des Lebens zumindest angelesen zu haben, würde sie oder er einfach so dahinleben. Unvorstellbar, fast fahrlässig!

Doch nicht überall, wo Stephen King draufsteht, ist auch Schrecken drin. Soviel sei verraten. Wir haben schon soviel gehört und gelesen, uns schon so oft gefürchtet, daß ein King'sches Knacken im Wald genügt. Nicht viele Autoren können mit solchen Reaktionen rechnen. Schnell packt King seine Opfer mit den ersten Sätzen, wie ein Ungeheuer schnappt er zu und läßt nicht mehr los: "Die Welt hatte Zähne, und sie konnte damit zubeißen, wann immer sie wollte. Das entdeckte Trisha McFarland, als sie neun Jahre alt war. Um zehn Uhr an einem Morgen Anfang Juni saß sie im Dodge Caravan ihrer Mutter auf dem Rücksitz, trug ihr blaues Trainingstrikot der Red Sox (das mit 36 Gordon auf dem Rücken) und spielte mit Mona, ihrer Puppe. Um zehn Uhr dreißig hatte sie sich im Wald verlaufen. Und um elf Uhr versuchte sie, nicht in Panik zu geraten, versuchte den Gedanken: Das ist schlimm, sogar sehr schlimm, nicht zuzulassen. Bemühte sich, nicht daran zu denken, daß Leute, die sich im Wald verirrten, manchmal ernstlich verletzt wurden. Daß sie manchmal starben."

Wenn die Leserin, den Leser der Schrecken packt, läßt das Zittern vielleicht beim Lesen oberflächlich werden, wie wir eben im dunklen Keller schneller gehen. Vielleicht bleibt die Ungewißheit, wer nun zubeißt, die Welt oder das Mädchen. Trisha beißt jedenfalls nicht, sie wird gebissen, und das höchstens von Mücken und Ungeziefer. Sonst soll nichts gewesen sein? Gut, ein elfjähriges Mädchen alleine im Wald, und das Tage und Wochen, das Brot und das Trinken reichen nur für einen Tag und die einzige Verbindung zur Außenwelt ist ein Radio, mit dem sie die Übertragungen der Spiele ihrer geliebten Mannschaft, der Boston "Red Sox" verfolgt, wobei sie vor ihrem geistigen Auge ihren Spieler Gordon sieht, der immer in der zweiten Hälfte des neunten Innings ins Spiel kommt, in der entscheidenden Phase. Stephen King ist nicht nur ein Meister des Schreckens, sondern auch einer der Sentimentalitäten. Mit den Stehsätzen von Radioreportern kann Trisha überleben, so einfach ist das. In der entscheidenden Situation in ihrem jungen Leben, am Ende des Buches: "Man konnte verlieren ... aber man durfte sich nicht selbst besiegen." Abgegriffen vielleicht, aber mit Wirkung, so wie die Melodie von "Chariots of fire" oder eine Melodie von Vangelis. Das Leben und das Schicksal, inszeniert als entscheidendes Spiel.

Bleibt am Schluß natürlich die Frage: Wofür das ganze, dieses Herumirren im Dreck und Morast im Schlepptau von Trisha? Der Fortsetzungsroman "Green Mile" konnte auch als unterschwellige Anklage gegen die Todesstrafe und die schnelle Vorverurteilung von Schwarzen gelesen werden. Doch die Realität ist nicht alles, es gibt das "wahre unterschwellig Wahrnehmbare". In "Das Mädchen" klingt das etwas bombastisch, in "Green Mile" waren es die heilenden Hände des schwarzen Häftlings John Coffey und vor allem die kleine Maus, die länger lebte als alle ihre Artgenossen.

Vielleicht ist tatsächlich nicht viel dahinter, trotzdem wird man diesen Roman nicht so schnell vergessen. Gegen den Strich gebürstet, kann das jüngste Buch von King auch traurig stimmen: Wenn die große Sprachlosigkeit unserer Gesellschaft einsetzt, dann genügen eingelernte Zeichen. Gordon tippt nach einem erfolgreichen Schlag mit dem Zeigefinger an den Rand seiner Kappe und dann in den Himmel. Diese Bewegung bleibt Trisha als einziges Mittel der Kommunikation, bevor sie sich nach den Strapazen im Krankenhaus ausschlafen kann. Ihr Dad versteht sie, er liebt Baseball, die "Red Sox" und natürlich Gordon. Die Sprachlosigkeit in unserer Gesellschaft hat jedoch nicht nur jene erfaßt, die sich in Wäldern verirren. Oft ersetzen Zeichen eine echte Auseinandersetzung, ein Gespräch: Eine einfache Botschaft. Wem diese Wahrheit zu fürchterlich ist, der kann sich auch mit einer anderen Variante begnügen: Trisha überlebt mit den einfachen Wahrheiten, die sie vom Sportreporter Joe Castiglione gehört hat. Eine Beruhigung, das Leben und die Gefahr sind zu meistern, auch mit dem Medienmüll im Kopf. Danke, Stephen King, für diesen Weg aus dem Dschungel!

Das Mädchen. Roman von Stephen King Schneekluth Verlag, München 2000. 302 Seiten, geb., öS 277,-/e 20,13

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