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„Amerikas Herz ist schwer..

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Am 4. April erschoß ein Meuchelmörder Dr. Martin Luther King. Der Schuß, wie der von Sarajevo 1914 oder der von Dallas im November 1963, kann noch unvorhergesehene schwere Folgen haben.

Es ist wohl ein Paradoxon, daß der Mann, der sein ganzes Leben der Gewaltlosigkeit gewidmet hat, durch eine Gewalttat sein Leben verlor. „Martin Luther King hatte mehr Vertrauen zu Amerika als Amerika zu sich selbst”, meinte Whitney Young, ein prominenter Freund von Dr. King.

Es ist auch wohl ein Paradoxon, daß Amerika, das reichste Land der Welt, das Land, das einst als Vorbild der Demokratie diente, das Land, das für Millionen von Menschen die Zuflucht oder das Land der Hoffnung bedeutete, heute das Land der Gewalt ist. Die Geschichte Amerikas wird einmal über die sechziger Jahre als „dlie blutige Periode” oder „die Zeit der Gewalt” schreiben, denn so ist es, und keine Worte der Beschwichtigung können es verschleiern oder verdecken, daß mit dem Tode von Dr. King Amerika in einen Bürgerkrieg geriet.

Es ist wohl tragisch, daß King, der über Frieden und Gerechtigkeit für alle, weiß oder schwarz, sprach, es nicht vermochte, seine Anhänger zu friedlichen Aktionen zu überreden. Wo immer er einen Vortrag: hielt, folgten Demonstrationen und Brandtaten. Viele seiner Anhänger verloren die Hoffnung, daß Gerechtigkeit durch Gewaltlosigkeit erworben werden kann. Langsam, aber sicher vermehrten sich die Gruppen, die Brutalität predigten, da die Worte Dr. Kings keine gewünschten Resultate brachten. Die Gruppen der Gewalt, wie die „Black Power”, verloren oder, besser gesagt, hatten nie die Geduld, Reformen abzuwarten. Die meisten Amerikaner verabscheuen Gewalt, und die Geschehnisse der letzten fünf Jahre, besonders aber die Ereignisse in diesem Monat beunruhigen viele.

Es ist eine Ironie des Schicksals, daß Präsident Johnson, 24 Stunden vor seiner Abreise nach dem Westen, um endlich über den erwünschten Frieden mit Nordvietnam zu unterhandeln, gezwungen war, in Washington zu bleiben, wo er nicht nur als Präsident, sondern auch als der Befehlshaber der Streitkräfte das Kommando übernehmen hat müssen, um einen totalen Bürgerkrieg zu vermeiden.

Man kann eine Parallele ziehen zwischen dem Jahre 1861, dem Beginn des amerikanischen Bürgerkrieges, und heute; ebenso zwischen Präsident Lincoln und Präsident Johnson. Es ist aber doch wieder verschieden: 1861 traten elf südliche Staaten aus der Union aus und es kam zu einem Krieg zwischen den Staaten; heutzutage können Staaten nicht mehr aus der Union austreten, und ein Krieg kann nur zwischen Rassen ausbrechen.

Besteht heute ein Bürgerkrieg? Man kann diese Frage nicht mit einem definitiven „Ja” oder „Nein” beantworten. Auf der einen Seite steht der Präsident, der hoffnungsvoll sagt: „Menschen aller Hautfarben werden sich jetzt vereinigen … Amerika wird nicht mit Patronen, sondern mit den Wahlzetteln gerechter Menschen regiert werden…” Worte dieser Art sind unüberhörbar. Der Tod Dr. Martin Luther Kings vereinigt Menschen, die den Frieden wollen; er vereinigt aber auch die Menschen, die schon früher an Gewalt glaubten und für die der Mord an Dr. King ein weiterer Beweis ist, daß durch Milde nichts gebessert werden kann. Dr. Martin Luther King ist ein Märtyrer für viele; seine Worte und Appelle werden heute ernst genommen. Es ist nur jetzt die Frage, ob es nicht zu spät ist.

„Amerikas Herz ist schwer und Amerikas Geist weint”, sagte Präsident Johnson am Tage nach Doktor Kings Tod. Die Tränen friedlicher Menschen können aber nicht die Feuer löschen, die von Menschen mit Wuttränen in ihren Augen gelegt wurden. Hat Amerika heute noch die Möglichkeit, zwischen dem und jenem zu wählen?

Die amerikanische Nation hat heute dieselbe Wahl, die sie schon seit langem hatte, nur ist die Wahl heute dringend und nicht etwas, das von Jahr zu Jahr verschoben werden kann. Um Kings Tod mit mehr als gutgemeinten Worten zu ehren, muß Amerika Millionen Häuser bauen für Millionen aus den Elendsquartieren; Schulen bauen für die kulturell vernachlässigten Kinder. Alles das heißt Billionen ausgeben für soziale Aktionen daheim — nicht für auswärtige Kriege. Wenn das nicht geschieht, dann ist die Aussicht für Amerika katastrophal. Wenn das nicht geschieht, dann werden die Worte von Whitney Young, daß Amerika kein Vertrauen zu sich selbst hat, wahr, und alle Tränen gutgesinnter Menschen und alle Worte gutgesinnter Präsidenten und Präsidentschaftskandidaten werden verstummen, und der einzige Laut, den man wird hören können, wird das Kanonenfeuer und das Seufzen vieler Witwen, schwarz und weiß, sein.

Der Schuß, der Dr. King tötete, bedeutet für Amerika einen Scheideweg. Genau wie 1861 muß das Volk über sein eigenes Schicksal entscheiden, und nach der Entscheidung gibt es keinen Rüdeweg mehr.

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