"Die Nickel Boys": Trotz allem im Gefühl der Würde
Colson Whitehead thematisiert in seinem jüngsten Roman „Die Nickel Boys“ ein grauenhaftes Stück reale Geschichte.
Colson Whitehead thematisiert in seinem jüngsten Roman „Die Nickel Boys“ ein grauenhaftes Stück reale Geschichte.
Sie nennen sich „White House Boys“ und haben sich in unterschiedlichen Organisationen zusammengeschlossen, um ihre Schicksale als ehemalige Schüler zu erzählen und auf Aufklärung zu drängen. Obwohl juristisch keine großen Konsequenzen mehr zu erwarten sind, denn die meisten Täter sind bereits tot. Der Vorwurf: In der Arthur G. Dozier School for Boys in Marianna, Florida, wurden jahrzehntelang Kinder und Jugendliche misshandelt und gefoltert. Manche erlagen ihren Verletzungen und wurden, wie man heute weiß, teils offiziell, teils auch inoffiziell auf dem Campus begraben.
Die „Investigative Summary“ des „Florida Department of Law Enforcement“ kam 2010 trotz hundert Befragungen zum Schluss, dass die Vorwürfe von physischem und sexuellem Missbrauch nach über 50 Jahren weder beweisbar noch widerlegbar sind. Doch ein Jahr später wurde die Schule geschlossen, offiziell aus ökonomischen Gründen. Das Grundstück sollte verkauft werden, doch eine Gruppe von Archäologen und Anthropologen der Universität von South Florida unter Leitung von Erin Kimmerle durfte dort zuvor noch graben.
Der Verdacht bestätigte sich bald, dass es neben dem offiziellen Friedhof, „Boot Hill“, auch einen inoffiziellen gab, mit namenlosen Toten, vergraben ohne Särge. Von einigen wusste man auch gar nichts, weil ihr Tod nicht dokumentiert war. Trotz Protesten und Kritik versuchten die Forscher, durch Exhumierung und DNA-Analyse den toten Kindern wieder einen Namen zu geben und, so möglich, auch die Gewalt, die an ihnen ausgeübt wurde, und die Todesumstände zu klären. Der „Report on the Investigation into the Deaths and Burials at the Former Arthur G. Dozier School for Boys in Marianna, Florida“ ist auf der Webseite der Universität nachzulesen. Seit 1900 bestand die Dozier School als sogenannte „Besserungsanstalt“, in die Schüler auch wegen kleinerer Vergehen eingeliefert wurden. Auf dem Grundstück der Schule stand das „White House“, ein kleines Gebäude, von dem ehemalige Schüler berichten, dass sie dort an die Wände gefesselt und krankenhausreif geschlagen wurden.
Vergangenheit und Gegenwart
Der US-amerikanische Autor Colson Whitehead, der für seinen Roman über das Sklavenbefreiungsnetzwerk „Underground Railroad“ 2016 mit dem National Book Award und 2017 mit dem Pulitzer Prize for Fiction ausgezeichnet wurde, hatte 2014 von der grauenhaften Geschichte gehört und daraus einen lesenswerten Roman gestaltet. Whitehead erzählt in „Die Nickel Boys“ nüchtern, er braucht die Schläge, die Folter nicht auszumalen, auch nicht das nächtliche Abholen der Kinder aus dem Schlafsaal oder das Vergraben von Leichen – die Gewalt und das Entsetzen darüber stellen sich in der Fantasie des Lesers ein und wirken damit noch stärker.
Ohne jede Effekthascherei verbindet er die Vorgänge in der Schule, die er in seinem Roman „Nickel“ nennt, mit den Befreiungskämpfen der Schwarzen in den frühen 60er Jahren. Denn es geht um unbegreifliche „Erziehungsmaßnahmen“ sogenannter „Besserungsanstalten“, es geht um Humanität und es geht um Rassismus: Die meisten toten Kinder zwischen 6 und 18 Jahren (mit Ausnahme jener, die 1914 bei einem Brand eines Gebäudes ums Leben kamen) sind afroamerikanischer Herkunft. Die Jim-Crow-Gesetze erlaubten es, Schwarze wegen geringster Vergehen festzunehmen, etwa aufgrund von Herumstreunen oder Anrempeln von Weißen.
Colson Whitehead verdeutlicht mit seinem Roman die Fortsetzung der Praktiken der Sklaverei in jenen der Schulleitung ebenso wie den Zusammenhang von der dringend fälligen Befreiung der Sklaven und dem Freiheitskampf der Schwarzen mit der dringend nötigen Abkehr von pädagogischen Praktiken, die Seelen und Körper von Kindern zertrümmern. Es geht um die Ablehnung eines Menschenbildes, das bis heute weiter wirkt. Es geht um nichts Geringeres als die Würde eines jeden Menschen, darum, dass keiner mehr wert ist als ein anderer. Sein fiktiver Protagonist, der völlig unschuldig verhaftete, junge, schwarze Elwood Curtis (er wollte per Autostopp zu seinem College fahren und ist zufällig bei einem Autodieb eingestiegen), hat im „Nickel“ stets die Worte von Martin Luther Kings Rede „At Zion Hill“ im Ohr. Auch Sätze von James Baldwin begleiten ihn und halten ihn aufrecht.
Umgeben von Menschen, die nur darauf aus sind, ihn als Menschen zu brechen und ihm seine Würde ganz und gar zu nehmen, träumt der junge Elwood von Gerechtigkeit und Gleichheit und erinnert sich an Martin Luther King, der an die Liebe, die selbstlose Unterstützung der Mitmenschen und die Humanität appellierte. „Wir müssen tief in unserer Seele glauben, dass wir jemand sind, dass wir bedeutsam sind, dass wir etwas wert sind, und wir müssen die Straße des Lebens in diesem Gefühl der Würde und in diesem Gefühl des Jemand-Seins beschreiten.“ Bestrebt, sich untadelig und unauffällig zu verhalten, um die Zeit im „Nickel“ so kurz wie möglich zu halten, schlittert Elwood aber mit seinem Gerechtigkeitssinn sogleich in die erste Situation, aus der er blutig geschlagen auf der Krankenstation erwacht. Nichts Geringeres als das System abschaffen will schließlich dieser junge Schwarze, der wie Martin Luther King als Einzelner dafür zwar bezahlen, aber seine Würde, seinen Gerechtigkeitssinn, seine Humanität bewahren – und weitergeben wird.
Die Nickel Boys
Roman von Colson Whitehead
Aus dem Engl. von Henning Ahrens
Hanser 2019 224 S.
geb., € 23,70
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